Boris Johnsons Aufstieg und Fall hat die Briten so gut unterhalten wie sonst nur Shakespeares Dramen. Der allerletzte Akt rund um den charismatischen Chaoten ist noch nicht geschrieben.
Ich habe keinen Stachel,
die Seiten meines Wollens anzuspornen,
als einzig Ehrgeiz.
Macbeth I, 7.(Macbeth)
In allen großen Königsdramen ist das Ende erbärmlich. Vom Rausch des Aufstiegs, von allen hochfliegenden Träumen und der Hoffnung auf eine lange und glorreiche Herrschaft bleibt am Ende: wenig bis nichts. Als Shakespeares Macbeth am Schluss um sich blickt, hat der Bürgerkrieg Land und Leute zerrissen, der nächste skrupellose Thronanwärter steht schon bereit. Uneinsichtig hält sich der alte König an der Illusion fest, dass er nicht abtreten muss.
Und stirbt dann doch.
Dieses bittere, wenn auch nur politische Schicksal ereilte am 7. Juli 2022 Großbritanniens gegenwärtigen Premierminister. Seine Minister waren am Mittwochabend in sein Büro in der Downing Street gepilgert – einer nach dem anderen – und hatten ihm die Gefolgschaft aufgekündigt. Störrisch hielt der 58-jährige Konservative an seinem Amt fest, obwohl sich bereits alle abgewandt hatten.
Am Donnerstag um 12.30 Uhr dann trat der konservative Premierminister schließlich ganz allein ans Podium vor Downing Street Nummer 10 und gab seinen Rücktritt als Parteichef bekannt. Nicht ohne seine Parteikollegen des Verrats zu bezichtigen und sich dem Volk auch weiterhin als Regierungschef ans Herz zu legen, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gekürt sei: „Ich habe so hart gekämpft, meinen Job weiterzumachen, weil ich es als meine Pflicht empfinde, umzusetzen, wofür wir 2019 mit solch überwältigender Mehrheit gewählt worden sind.“ Jedoch: „Herdeninstinkt ist mächtig, und wenn die Herde weiterzieht, meine lieben Freunde in der Politik, ist jeder verzichtbar.“
Der „Clownfall“ (Copyright: „The Economist“) aber ist damit noch nicht vollendet. Boris Johnson will als Interimspremier noch zwei Monate im Amt bleiben. Angesichts der unglaublich vergifteten Atmosphäre zwischen ihm und der konservativen Tory-Partei ist dies kaum vorstellbar. Ex-Premier John Major rief am Donnerstagabend die Fraktionskollegen im Parlament dazu auf, Johnson endgültig das Misstrauen auszusprechen: Es sei „unklug“ und „vielleicht nicht haltbar“, dass Johnson interimistisch im Amt bleibe. Stattdessen solle Dominic Raab, sein bisheriger Vize, die Geschäfte weiterführen.
Boris Johnson will sich wie Macbeth nicht mit der Niederlage abfinden. Der Verlust von Zuneigung ist für einen narzisstischen Charakter undenkbar. Vielleicht ist es auch eine besondere Eigenschaft von Populisten, die eher dem Image als dem Inhalt verpflichtet sind und sich nur schwer damit abfinden können, dass ihre Anziehungskraft unwiederbringlich verloren ist.
Kurz machte in Westminster Mitte der Woche die Befürchtung die Runde, Johnson könne wie Donald Trump seine Anhänger zum Sturm auf das Parlament aufrufen. „Boris ist nicht Trump“, wehrt Tory-Abgeordneter Tobias Ellwood im Gespräch mit profil ab: „Und seine Fans sind nicht bewaffnet.“ Ellwood, ein ehemaliger Staatssekretär und Offizier der britischen Armee, hatte Johnson schon im Februar zum Rücktritt aufgefordert: „Johnson hat unsere politischen Standards nach unten gedrückt und damit das Vertrauen in die Politik beschädigt.“
Boris Johnsons unrühmliches Ende ist so eindrucksvoll wie seine Fähigkeit, die Menschen zu begeistern. Sein Charisma, das nicht nur auf seinem Sinn für Humor beruht, sondern auch auf den schamlos zur Schau gestellten Charakterschwächen – die Abneigung für Details und die fast unbändige Lust an der Lüge –, bescherten Boris Johnson eine beispiellose Karriere.
Schon als Kind hat er seine Familie darüber informiert, dass er „König der Welt“ werden wollte. Zuerst versuchte sich der Zögling des Eliteinternats Eton und der Edeluni Oxford als Journalist. Für den „Daily Telegraph“ berichtete er ab 1989 aus Brüssel, der Hauptstadt der EU-Institutionen. Schon damals hatte der EU-Skeptiker eine diebische Freude daran, die trockenen Pressetexte der EU-Kommission in „Scoops“ zu verwandeln: „Es war, als ob man einen Stein über die Mauer warf und hörte, wie er drüben ins Glashaus krachte.“ So beschrieb er einmal, wie sich seine Artikel auf das Geschehen in Brüssel auswirkten.
Da er wegen falscher Angaben seinen Job verlor, sattelte der lebenslange Konservative mit sozialliberaler Tendenz auf Politik um. Der Posten als Londoner Bürgermeister von 2008 bis 2016 war wie auf ihn zugeschnitten: Boris Johnson brillierte als leutseliger Stadtvater. Er fuhr mit dem Fahrrad ins Büro, zog Sponsoren Millionen aus der Tasche, und als er 2012 auf einer Seilrutsche über Ostlondon hängen blieb, konnte er diese an sich abgrundtief peinliche Situation retten, indem er sie einfach zur Showeinlage machte. Das Bild prangt diese Woche auf dem Cover des „Economist“: Johnson, am Seil baumelnd – blauer Helm, schwarzer Anzug – wie er in jeder Hand ein britisches Fähnchen hält und verschmitzt grinst.
Bald darauf packte ihn ein blinder Ehrgeiz, der schon Macbeth zum Verhängnis geworden war.
Er suchte einen Weg nach ganz oben. Wie sein Idol Winston Churchill wollte Boris Johnson beweisen, dass er Britannien aus schweren Stunden in eine neue goldene Ära führen könnte. Anders als zu Churchills Zeiten aber herrschte gar kein Krieg in Europa.
Also musste er einen erfinden. Im Februar 2016 setzte sich Boris Johnson an die Spitze der EU-Skeptiker, denen Premier David Cameron ein Austrittsreferendum versprochen hatte. Das Vereinigte Königreich haderte mit dem Bedeutungsverlust eines früheren Empires, der Platz als wichtige Nation in der EU war vielen Konservativen zu minder.
Boris Johnson witterte seine Chance auf den großen Karrieresprung. Er riskierte den Bruch mit seinem Freund Cameron und triumphierte dank seines Beraters Dominic Cummings mit dem Slogan „Take back Control“: Die Briten stimmten für den Brexit.
Danach ging es schnell. Johnson bootete Camerons Nachfolgerin Theresa May aus und wurde bereits 2019 Parteichef und Premierminister. Im Dezember 2019 gewann er mit dem wiederum schlagkräftigen Drei-Worte-Diktum „Get Brexit done“ eine riesige Mehrheit von 80 Mandaten.
Boris Johnson war am Ziel angelangt. Er hatte Downing Street erobert und den Briten den Brexit geschenkt.
Kaum war er im Amt, brach die Covid-Pandemie über die Welt herein. Johnson landete schon früh im April 2020 auf der Intensivstation. Als libertärer Abenteurer hatte er die Gefährlichkeit der grassierenden Krankheit vollkommen falsch eingeschätzt. Letztlich konnte er aber auch diese Krise nutzen, er bestellte riesige Mengen von Impfstoff und kehrte den krisenresistenten Regierungschef hervor, der in der dunkelsten Stunde Durchhalteparolen von sich gab.
Der Notstand ist Boris Johnsons bevorzugter Normalzustand. Deshalb lief er im Frühling 2022 auch im Ukraine-Krieg zur Hochform auf, flog als einer der Ersten nach Kiew, freundete sich mit Präsident Wolodymyr Selenskyj an und lieferte Waffen, als gäbe es zu Hause keine anderen Sorgen.
Im Alltag der Regierungsgeschäfte wurde Boris Johnson seine größte Stärke allerdings sehr schnell zum Verhängnis: sein Charakter. Da er sich Ende 2020 mit seinem Chefberater Dominic Cummings entzweit hatte, fehlten dem begabten Redner und Wahlkämpfer plötzlich Korrektiv und Richtung für ein politisches Projekt. Stattdessen versprach Johnson den Leuten das Blaue vom Himmel und allen alles. Am Ende stolperte Johnson über die Corona-Krise, die er vorgab, so gut gemeistert zu haben.
Corona geriet ihm zur Staatsaffäre, im Volksmund als „Partygate“ bekannt. In Downing Street war während des Lockdowns nach Büroschluss mehrfach bis in die Morgenstunden gefeiert worden und das, während der Rest des Landes nicht mal zur Beerdigung der eigenen Eltern gehen konnte. Vielleicht hätten die Briten das noch schlucken können. Boris Johnson aber tat bei jeder Enthüllung immer so, als hätte er nichts davon gewusst. Die Leute fühlten sich gefoppt. Nach Partygate verlor Johnsons Partei im Frühsommer 2022 alle Regional- und Nebenwahlen haushoch. Die Wunderwaffe an der Wahlurne hatte sich in Gift verwandelt.
Nicht nur die Wählerinnen und Wähler, auch die Medien hat der einstige Volkstribun verloren. „Get Exit Done“, persiflierte der linksgerichtete „Mirror“ am Tag seines Rücktritts Johnsons Hit-Slogan „Get Brexit Done“. Sogar seine Leibblätter, für die er jahrzehntelang geschrieben hat, der „Daily Telegraph“ und das Magazin „The Spectator“, haben sich längst von ihm abgewandt.
Schlimmer aber ist, dass auch die rechten Massenmedien nicht mehr zu ihm stehen. Die „Daily Mail“ berichtete vor dem Wochenende süffisant, dass er sich deshalb als „Caretaker“ ans Regierungsamt klammere, weil er seiner dritten Frau Carrie ein großes Hochzeitsfest versprochen habe. Und zwar Ende Juli am Landsitz Checkers, wo sich britische Regierungschefs am Wochenende von Downing Street erholen. Die Save-the-dates an die Hochzeitsgäste waren vor dem Meltdown bereits verschickt worden. Am Freitag schließlich ließ Johnson die Sause in Checkers absagen.