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Mit dem Rücktritt seiner wichtigsten Minister ist der britische Premierminister Boris Johnson politisch tödlich verwundet. In der konservativen Tory-Partei wird fieberhaft an einem Plan gearbeitet, wie man den einstigen Volksliebling loswerden könnte. Auch, wenn der erstmal weitermachen will.
VON TESSA SZYSZKOWITZ am 6. Juli 2022
Als Boris Johnson am Mittwochmittag für die wöchentlichen Premierminister-Fragen ans Rednerpult trat, blickten nicht nur die oppositionellen Abgeordneten der Labour-Partei und die Journalisten von der Pressegalerie gespannt auf den britischen Premierminister. Ob es irgendein Szenario gäbe, in dem er zurückträte?, fragte ihn einer seiner eigenen konservativen Abgeordneten. Boris Johnson zeigte keine Anzeichen dafür, dass er seinen Job an den Nagel hängen will: „Selbst in schwierigen Zeiten gibt es darauf nur eine Antwort: Weitermachen. Und das werde ich.“
„Die Richtung ist klar“, sagt dagegen Tobias Ellwood im Gespräch mit Cicero, „die Sache ist vorbei“. Der konservative Abgeordnete für den Wahlbezirk Bournemouth gehört zu jenen 148 Rebellen, die Boris Johnson im Juni das Misstrauen ausgesprochen hatten: „Johnson hat unsere moralischen Standards nach unten gedrückt, das hat das Vertrauen in die Politik untergraben.“ Ellwood, bis 2019 Staatssekretär im Verteidigungsministerium und davor Offizier in der britischen Armee, wünscht sich etwas mehr Disziplin in Downing Street.
Das könnte er demnächst bekommen. Am Dienstagabend waren zwei der wichtigsten Minister zurückgetreten. Finanzminister Rishi Sunak, der bis vor kurzem als Nachfolger gehandelt wurde, und Innenminister Sajid Javid warfen innerhalb weniger Minuten das Handtuch. In den folgenden Stunden kam es zu einer Flut von Rücktritten kleinerer und mittlerer Gefolgsleute. „Unsere Leute wissen: Wenn etwas zu gut ist, um wahr zu sein, dann ist es gelogen“, schreibt Sunak in seinem Rücktrittsbrief.
Grapsch-Affäre bringt das Fass zum Überlaufen
Nach einer Serie von Skandalen bringt jetzt eine eher kleinere Affäre das Fass zum Überlaufen: Der konservative Abgeordnete Chris Pincher war von Johnson in ein wichtiges Fraktionsamt befördert worden, obwohl er für sexuelle Belästigung bekannt gewesen war. Als Pincher nach einer versoffenen Nacht, in dem er wieder zwei Männer begrapscht hatte, vorige Woche von seinem Amt entbunden werden musste, log Johnson noch tagelang weiter, dass er über Pinchers Fehlverhalten nicht informiert gewesen war.
Der Mangel an Wahrheitsliebe ist längst die größte Schwäche des Regierungschefs geworden. Für Boris Johnsons Aufstieg und Untergang war sein Charakter der entscheidende Faktor. Ein humorvoller, leutseliger und zugänglicher Charismatiker, der es mit der Wahrheit nicht genau nahm und Details geradezu verabscheute, war er schon als Journalist. Er blieb es als Londoner Bürgermeister. Im Zuge der britischen Brexit-Kampagne trieb er sein Talent als populistischer Volkstribun auf die Spitze.
Jetzt fällt ihm auf den Kopf, dass er als Regierungschef viel zu große und viel zu viele Versprechen gemacht hat: Die verarmten Labour-Wähler im Norden und die betuchten Konservativen im Süden kann man auf Dauer nicht gleichzeitig zufrieden stellen: Geld ausschütten und gleichzeitig Steuern senken geht sich mitten in einer Wirtschaftskrise nicht auf Dauer aus. Zum Teil ist die Explosion von Lebensmittel- und Energiepreisen der Pandemie geschuldigt, für die er nichts kann. Aber zu einem guten Teil ist die Krise auch die Folge des Brexits, den er zu verantworten hat. „Der Austritt aus der EU kostet uns vier Prozent des BIP“, sagt Tobias Ellwood, „das sind vierzig Milliarden Pfund (46 Milliarden Euro) im Jahr, die wir für etwas anderes verwenden hätten können.“
Das Unterhaus versus den Premierminister
Im Unterhaus hielt am Mittwoch auch Sajid Javid, der bisherige Innenminister, eine sehr persönliche Abschiedsrede. „Politiker brauchen absolute Integrität. Die feine Linie zwischen Loyalität und Integrität ist in den vergangenen Monaten immer schwieriger zu sehen gewesen.“ Das gesamte Haus hörte Javid zu. Weder die Opposition noch die Tories buhten ihn aus. Das passiert im britischen Unterhaus nur selten. „Genug ist genug“, sagte Javid. In das dröhnende Schweigen in den eigenen Reihen sagte Javid zu seinen Ministerkollegen, die noch im Amt bleiben wollen: „Nichts zu tun ist auch eine aktive Entscheidung.“
Einige Ministerinnen und Minister aber warten immer noch ab. Manche Kabinettmitglieder wie Kulturministerin Nadine Dorries zögern aus Loyalität zu Johnson, der ihre Karriere befördert hat. Nach Johnsons Abgang werden auch sie von der Regierungsbank verschwinden.
Andere wie Außenministerin Liz Truss oder Verteidigungsminister Ben Wallace sind erstaunlich still in diesen dramatischen Stunden. Vielleicht auch, weil sie sich als potenzielle Nachfolger und Nachfolgerinnen nicht als Brutus zeigen wollen. Generell wird spekuliert, dass sich die Partei nach dem chaotischen Populist Johnson einen etwas weniger exzentrischen Chef suchen wird. Das könnte dem neuen Finanzminister Nadhim Zahawi zugutekommen. Der hat zwar eine schillernde Geschichte – er kam als 11-jähriges, kurdisches Flüchtlingskind aus dem Irak nach Britannien. Ihm fehlt aber die Lust an der Lüge, die Johnson immer ganz offen gezeigt hat.
Wer kann Johnson loswerden?
Da Boris Johnson Downing Street nicht freiwillig verlassen will, wird in den Reihen der Rebellen fieberhaft konspiriert. Das 1922-Komitee der Hinterbänkler, die Anfang Juni ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson abgehalten haben, werden unter Umständen die Regeln ändern, die bisher besagen, dass nur ein Votum pro Jahr legal ist. „Wir machen aber jetzt nicht schon wieder den Job der Kabinettsmitglieder“, winkt Rädelsführer Steve Baker im Gespräch mit Cicero ab: „Jetzt müssen die Minister mal selbst ran.“
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