Die Franzosen haben zwar im April Emmanuel Macron zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt, um die rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern. Jetzt aber zeigt sich bei den Parlamentswahlen, wie unwohl sich viele Franzosen mit dieser Wahl fühlen - Macron gilt als arrogant und selbstherrlich, er mische sich zu wenig unters Volk und regiere wie ein französischer König von seinem Élysée-Palast aus.
Bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni bricht die Wut gegen Macron durch. Der linke Demagoge Jean-Luc Mélenchon landete einen Scoop, weil er den politischen und persönlichen Unmut in einem linksgrünen Bündnis namens Nupes (Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale) bündeln konnte. Seine eigene Bewegung La France Insoumise ("Das ungebeugte Frankreich") hat sich mit Grünen, Kommunisten und Sozialisten verbunden. Kernforderung: das Pensionsalter senken.
Beim ersten Wahlgang für die Assemblée Nationale am 12. Juni erreichten beide Blöcke, das von Macron angeführte Bündnis Ensemble und eben Nupes, 25 Prozent der Stimmen und liegen bei einer beschämend niedrigen Wahlbeteiligung von 47 Prozent gleichauf. Am 19. Juni aber ist Stichwahl, da gewinnt in den 577 Wahlkreisen jeweils der stimmenstärkste Kandidat oder die stimmenstärkste Kandidatin. Eine Mehrheit wird sich wohl für Macron ausgehen, eine absolute Mehrheit von 289 Abgeordneten bestenfalls knapp.
Macrons Projekt, das Beste von rechts und links für seine Bewegung Renaissance zu sammeln, scheint gescheitert. Sein Herausforderer Mélenchon hat eine neue Linke um sich geschart. Bis in den betuchten Pariser Mittelstand hinein wählen die Französinnen und Franzosen den linken Populisten -auch auf die Gefahr hin, dass der Präsident mit einem feindlichen Parlament in einer Kohabitation zusammenarbeiten muss und seine geplanten Reformen -Steuern senken, Pensionsalter heben -auf der Strecke bleiben. Viele halten Macron aber eben jetzt schon für eine lahme Ente. Der Präsident hatte sich siegessicher aus dem Wahlkampf herausgehalten. Inhaltlich ist er den Wählern zu rechtslastig, zu wenig grün, nachhaltig, feministisch und divers. Mélenchon dagegen reißt die Wähler mit aufpeitschenden Reden mit. Nicht nur viele Junge begeistern sich deshalb eher für Mélenchon. Der 70-jährige Linkspopulist konnte viele Wähler absaugen, die früher die französischen Sozialisten gewählt hätten. Heute ist der PS atomisiert.
Viele stimmen außerdem aus strategischen Gründen für Nupes, weil sie damit den Druck auf Macron erhöhen wollen. Sie hoffen, dass ihre siegreichen Nupes-Kandidaten, die ins Parlament einziehen, dann dort wieder mit ihren ursprünglichen Parteien wie den Grünen Politik machen.
Die Renaissance sehr alter weißer Männer als Ikonen einer neuen Linken -Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien -wirkt dennoch wie aus der Zeit gefallen. Im Gegensatz zum progressiven Bernie Sanders ist Mélenchon wie Corbyn -aber außenpolitisch ein gemeingefährlicher Agent. Vor allem für die EU. Das neue Bündnis Nupes will sich nicht mehr an die EU-Verträge halten, es ruft zum "Ungehorsam" gegen die europäischen Gesetzestexte auf.
Mélenchons Ideen zur Weltpolitik sind geprägt von einem harten Antiamerikanismus und einer weichen Sicht auf den russischen Diktator Wladimir Putin. 2016 sagte Mélenchon noch, der russische Präsident würde in Syrien Ordnung schaffen. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 rang sich Mélenchon erst sehr spät dazu durch, das Vorgehen Russlands zu verurteilen. Denn, sagte er: Putin fühle sich zu Recht von der Osterweiterung der Nato provoziert. Mélenchon will Frankreich außerdem aus der Nato holen.
"Ich verstehe ja die Lust auf eine linke Opposition", sagt Dany Cohn-Bendit, der als Studentenführer 1968 in Paris Geschichte geschrieben hat. Später saß Cohn-Bendit für die europäischen Grünen im EU-Parlament.
Heute zeigt sich der 77-Jährige fassungslos über das Bündnis der französischen Grünen mit Mélenchon: "Das ist Verrat an der grünen und der europäischen Idee."
Für ihn aber ist die Erklärung für das komplexe Phänomen Mélenchon relativ einfach: "In Frankreich muss man ab und zu dem König den Kopf abschneiden. Die Franzosen haben eine Leidenschaft für die Revolution."
Aber EU-Verträge geringschätzen und Putin verehren? Das hört man sonst von der rechtsextremen Marine Le Pen. ...
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