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Nordirland: Machtwechsel erschüttert das Vereinigte Königreich 

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Nach den Wahlen in Nordirland stellt zum ersten Mal die nationalistische Partei Sinn Fein die Regierungschefin. First Minister Michelle O’Neill kündigt als Erstes ein Referendum über die Wiedervereinigung Nordirlands mit den Rest der Insel an. Doch ihre Partei kann nicht allein regieren. Und der Brexit sorgt für zusätzliche Spannungen.


„Ich werde eine Regierungschefin für alle Nordiren sein“, verkündete Michelle O’Neill, als ihr Wahlsieg feststand. Ähnliches versprechen zwar praktisch alle in der Stunde des Triumphs, aber im Fall der Vizepräsidentin der nationalistischen Sinn Fein wird es besonders schwierig. Denn Michelle O’Neill wird als First Minister mit der 101-jährigen Geschichte Nordirlands brechen. Erstmal stellen die loyalistischen Unionisten nicht mehr die Regierungschefin. O’Neill aber will noch mehr: Als nationalistische Irin will sie Nordirland abschaffen und mit der Republik Irland wiedervereinigen.

 

Das Wahlergebnis erschüttert die bisherigen Machtverhältnisse. Wie prognostiziert gewannen bei den Wahlen zur nordirischen Versammlung in Stormont am Donnerstag die irischen Nationalisten der Sinn Fein mit 29 Prozent der Stimmen mehr als die DUP mit 21 Prozent. Die zentristische Allianz ist dritte Kraft. Erstmals in der Geschichte Nordirlands lösen die katholischen, irischen Kräfte in Stormont, dem Belfaster Regierungssitz, die pro-britischen, protestantischen Unionisten der DUP als stärkste Kraft ab.

 

Sinn Fein befürwortet eine „Border Poll“, ein Referendum über die Abschaffung der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland im Süden. Sollte die Volksabstimmung tatsächlich in einigen Jahren abgehalten werden, besteht theoretisch die Chance, dass Nordirland danach nicht mehr als Teil des Vereinigten Königreichs, sondern nur noch als Teil Irlands existiert.

 

„Sinn Fein wird sofort mit den Vorbereitungen zu einem Referendum beginnen“, sagt Ian Paisley Jr. zu Cicero, „die sind schließlich Nationalisten.“ Der Sohn des legendären protestantischen Politikers Ian Paisley ist wie der Vater Mitglied der ultra-unionistischen DUP-Partei. Ian Paisley trägt zwar den berühmten Namen des Parteigründers, ist aber derzeit nur einfacher Abgeordneter für die DUP in Westminster. Vor seiner Wahl ins britische Unterhaus 2010 war er Abgeordneter in der nordirischen Versammlung in Stormont. Über die Intention der irischen Nationalisten ist Paisley Jr sich genauso im Klaren wie darüber, das seine eigenen unionistischen Nationalisten kein Referendum befürworten. Die Gefahr wäre aber gering, denn: „Bisher gibt es eine klare Mehrheit in Nordirland für die Union mit dem Vereinigten Königreich.“

 

Das stimmt. Doch der Brexit hat in Nordirland zu neuen Spannungen geführt, die die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen den nordirischen Bevölkerungsgruppen enorm belasten.

 

Die unionistische DUP kommt derzeit weder mit Sinn Fein innerhalb Nordirlands noch mit Boris Johnsons Regierung in Westminster gut aus. „Das Nordirland-Protokoll ist ein Desaster und muss weg“, sagt Paisley. Bloß: Das Nordirland-Protokoll ist Teil des Brexit-Vertrages, den die britische Regierung mit der EU unterzeichnet hat, um aus der EU austreten zu können. Das Protokoll legt fest, wie künftig in Nordirland mit der EU gehandelt wird: Nordirland ist Teil des EU-Binnenmarktes geblieben, damit es keine feste Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem UK-Teil Nordirland geben muss. Um das zu erreichen, hatte sich die Regierung von Boris Johnson im Austrittsvertrag mit dem Nordirland-Protokoll dazu verpflichtet, eine neue Zollgrenze im irischen Meer zwischen Nordirland und Großbritannien einzuführen.

 

Das aber erbost die DUP, die sich dadurch verraten fühlt. „Unsere Preise sind wegen der neuen Zollgrenze um 27 Prozent gestiegen – obwohl wir innerhalb unseres eigenen Landes zwischen Großbritannien und Nordirland, die beide Teil des Vereinigten Königreichs sind, Handel treiben“, sagt Paisley: „Die Nordiren wurden von Boris Johnson betrogen. Das akzeptiere ich nicht.“ Die DUP verlangt von der britischen Regierung, das Protokoll außer Kraft zu setzen. Dass dies einem Bruch eines internationalen Vertrages gleichkommt, ist Paisley egal: „Der Vertrag funktioniert für uns nicht. Die Regierung muss mutige Schritte setzen.“

 

Die DUP hat deshalb schon vor den Wahlen am 5. Mai angekündigt, dass sie keine Regierung in Nordirland bilden wird, wenn das Nordirland-Protokoll noch in Kraft ist. Johnsons Regierung ringt mit der EU um einen Kompromiss. Für Brüssel aber kommt ein Bruch des EU-Regelwerks nicht in Frage.

 

Für die Zukunft Nordirlands ist all das keine gute Nachricht. Jetzt ist zwar Sinn Fein in Stormont stärkste Kraft geworden, kann aber nicht allein regieren. Nach dem 1998 abgeschlossenen Friedensvertrag von Belfast sind beide nationalistischen Parteien - Sinn Fein und DUP – dazu verpflichtet, gemeinsam zu regieren. Dieses Modell wurde vom holländisch-amerikanischen Politologen Arend Lijphart entwickelt, um Gesellschaften den Weg aus tiefen inneren Konflikten in die Demokratie zu ebnen. Es ist im Belfaster Friedensabkommen von 1998 festgelegt und bildet die Grundlage des fragilen Friedens, der in Nordirland gute zwei Jahrzehnte gehalten hat.

 

Bis zum Brexit klappte das gemeinsame Regieren auch nicht gerade reibungslos. Während der Brexitverhandlungen brach die Regierung in Stormont aufgrund von Korruptionsskandalen zwischen 2017 und 2020 zusammen. Seit dem Austritt aus der EU und den neuen Zoll-Regelungen aber kommt es sogar wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zeichnete in den Jahren der „Troubles“ zwischen 1968 und 1998 oft die katholisch-nationalistische Irisch- Republikanische Armee IRA für die Gewalt verantwortlich, droht heute eher Gefahr von der unionistischen Seite.

 

Die Wut über die neue Zollgrenze drückt sich in Graffiti in loyalistischen Wohngegenden aus, dort wird im Namen der „Protestant Action Force“ PAF Gewalt und Krieg angedroht. Gelegentlich kommt es bereits zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bei Demonstrationen.

 

Die Angst vor dem Wiederaufflammen der Gewalt in Nordirland wird deshalb auch die erste Amtszeit der neuen Regierungschefin Michelle O’Neill prägen. Die Vizepräsidentin von Sinn Fein ist selbst die Tochter eines ehemaligen IRA-Sympathisanten. Erst 1994 hatte Sinn Fein, der politische Flügel der IRA, dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen.

 

Das Trauma des Bürgerkrieges ist noch längst nicht verarbeitet, da belastet der Brexit mit seinen Folgen die politische Lage in Nordirland noch zusätzlich. Während der Brexit in England von nationalistischen und xenophoben Kräften getragen wurde, haben in Irland derzeit moderate, pro-europäische und sozial liberale Regierungen links oder rechts vom Zentrum das Sagen. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in Nordirland wieder. Die unionistische DUP hat sich radikalisiert und deshalb bei diesen Wahlen Stimmen an die moderate nordirische Zentristenpartei Alliance verloren.

 

Sinn Fein dagegen hat sich politisch verbreitert. Unter Parteichefin Mary Lou McDonald und Vizechefin Michelle O’Neill spielten im Wahlkampf auch soziale Themen wie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine größere Rolle – eine Strategie, die sich an den Urnen bezahlt gemacht hat.

 

Doch in der Sache sind die irischen Nationalisten hart geblieben. Sinn-Fein-Abgeordnete aus Nordirland nehmen ihre Sitze im britischen Parlament in Westminster immer noch nicht ein, weil sie die Union mit Großbritannien nicht anerkennen.

 

Dass Sinn Fein mit diesem Programm jetzt stärkste politische Kraft in Nordirland geworden ist, löst in Dublin und London gemischte Gefühle aus. Die Angst vor einer Rückkehr der Gewalt ist vordringlich. Politisch droht in jedem Fall Instablilität. Boris Johnsons Konservative haben bei den am Donnerstag auch in England und Schottland abgehaltenen Lokalwahlen über 500 Gemeinderäte verloren. Am Gefährlichsten aber ist die Entwicklung für die Einheit des Vereinigten Königreichs in Nordirland.

 

Auch wenn Sinn Fein ihre Border Poll nicht sofort ansetzt, weil es dafür keine Mehrheit in Nordirland gibt, so hat die neue First Minister Michelle O’Neill jedenfalls einen Rahmen von fünf Jahren für ein Referendum angekündigt. Das Vereinigte Königreich könnte eine seiner vier Nationen verlieren.

 

 

 

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz