Der Schutz der russischen Minderheiten ist eine der Triebfedern – und Ausreden - für Vladimir Putins zunehmend kriegerische Außenpolitik. 2008 holte der russische Präsident die georgischen Gebiete Südossetien und Abchasien zurück nach Russland. Seit 2014 unterstützt er die russischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Donetsk und Luhansk. Ist Transnistrien das nächste Ziel der russischen Armee?
Noch immer harren hunderte Menschen in den unterirdischen Gängen des Stahlwerks Asowstal in Mariupol aus. Neben den Kämpfern der rechtsradikalen Asow-Miliz und regulären Soldaten der ukrainischen Armee sind immer noch Frauen und Kinder in den Kellern. Der russische Präsident Vladimir Putin sagt: Sollte eine weiße Flagge gehisst werden, garantiert er beste Behandlung.
Wer aber kann den Ukrainern verübeln, dass sie den Versprechen des russischen Präsidenten nicht glauben? Die Bilder der erschossenen Zivilisten von Butscha strafen Putins Beteuerungen über das Schicksal von Kriegsgefangenen Lügen.
Dabei hat Russland die Genfer Konvention von 1864, die festlegt, wie Kriegsgefangene behandelt werden müssen, schon 1865 unterzeichnet. Später wuchsen die Genfer Konventionen auf vier Verträge und Zusatzprotokolle an. Die Sowjetunion ratifizierte 1929 nur einen. Die russische Föderation unterschrieb die Genfer Konventionen von 1951 und 1967 aber sehr wohl.
Trotzdem vergewaltigen, foltern, morden russische Soldaten ukrainische Kämpfer und Zivilisten. „Kriegsverbrechen wie in Butscha werden überall verübt – zur Zeit im Osten und Süden der Ukraine in einem noch viel größeren Ausmaß“, sagt Jan Egeland, Generalsekretär des Norwegian Refugee Council nach einem fünftägigen Lokalaugenschein in der Ukraine.
Auch gesicherte Fluchtwege zur Evakuierung von Zivilisten sind Teil der Genfer Konventionen. Russland aber hat in diesem Krieg schon mehrfach humanitäre Korridore bombardiert – weshalb immer noch etwa 100.000 Zivilisten in der mittlerweile zerbombten Stadt Mariupol festsitzen.
Ob es Putin reicht, wenn Mariupol endgültig in russischer Hand ist und die Landbrücke am Asowschen Meer zwischen Donbass und Halbinsel Krim hergestellt wurde? Verhandlungen über einen Waffenstillstand sind derzeit nicht auf der Tagesordnung. Sind die jüngsten Angriffe auf Odessa Vorboten einer weiteren Offensive, um der Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer zu nehmen?
Einer von Putins führenden Militärs, Rustam Minnekajew, hat gedroht, man könne die Landbrücke nicht nur bis zur Krim, sondern auch gleich nach Moldawien ausbauen. In Transnistrien, einem Teil von Europas Armenhaus Moldawiens, wollen sich separatistische Russen an Russland anschließen. Seit einem Krieg 1992 ist die Region de facto unabhängig. Anerkannt wurde das von niemandem. Auch nicht von Russland. Bis jetzt.
Putin ist zwar nach eigener Aussage über die Ukraine hergefallen, um sie von Neonazis zu befreien. Das Asow-Bataillon im Stahlwerk in Mariupol besteht tatsächlich aus ultranationalistischen Neonazis. Politischen Einfluss hatten sie allerdings unter Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht.
Ob Putin seine eigene Propagandamythen über den ukrainischen Faschismus glaubt, darüber können Kreml-Experten nur spekulieren. Die Zerstörung des Nachbarlandes bedeutet jedenfalls auch den Verlust eines Teils der eigenen Geschichte. Das Stahlwerk Asowstal, dass Putin gerade kaputtgeschossen hat, wurde von seinem Vorgänger Josef Stalin 1930 gebaut. Der 250 Tonnen schwere Hochofen war der Stolz der Sowjetunion.
Während Putin und seine Armee in der Ukraine wüten, radikalisiert sich die russische Führung. In russisch und ukrainischen Foren kursiert wieder ein Begriff, der auch von den Tschetschenen in den 90er Jahren verwendet wurde: Das kyrillische Рашизм – auf Deutsch Ruschismus– setzt sich aus Russland und Faschismus zusammen. Eine tragische Verbindung.