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Vom Holodomor zur nächsten Hungersnot

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Die Weltkolumne im Falter vom 16.3. 2022 

 

Putins Krieg in der Ukraine hat noch andere Kollateralschäden neben der Ermordung von Zivilisten, der Zerstörung des Landes, der Vertreibung der Bevölkerung und Sanktionen, die beide Seiten äußerst hart treffen. Die Getreideernte in der Kornkammer Europas fällt aus. Im Nahen Osten, dem größten Importeur ukrainischen und russischen Weizens, drohen Versorgungsengpässe.

 

Am 24. Februar hatte der russische Präsident Vladimir Putin im russischen Staatsfernsehen behauptet, in der Ukraine drohe ein Genozid an den Russen. Kurz danach begann marschierte die russische Armee in der Ukraine ein. Heute wird bereits Lwiw bombardiert.

 

Putins zynischer Versuch aber, die russich-ukrainische Geschichte umzuschreiben, scheiterte – der Verwurf des Völkermords an der russischen Minderheit in der Ukraine ist ein Vorwand. Ein ausgesprochen explosiver. Die Ukraine brachte Russland dafür vor den Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen IGH in Den Haag. Bei der Anhörung am 7. März fehlte die russische Delegation. Die leeren Bänke sprachen Bände.

 

Dass der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyi mitten im Krieg Zeit findet, den IGH zu bemühen, zeigt die Sensibilität der Ukrainer bei diesem Thema. In der von den Nazis besetzten Ukraine wurde ab 1941 – auch unter kräftiger Mithilfe ukrainischer Nazi-Sympathisanten – heftig am Holocaust mitgearbeitet. Von den 2,7 Millionen ukrainischen Juden fielen 1,5 Millionen der industriell geplanten Vernichtung der europäischen Juden zum Opfer. Am 1. März wurde bei einem Angriff auch die Holocaust-Gedenkstätte Babi Jar in Kiew getroffen.

 

Es gab aber in der ukrainischen Geschichte noch ein anderes Ereignis, das nach Meinung vieler Ukrainer einem Genozidversuch gleichkam. In den Zwanzigerjahren hatte Josef Stalin durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine eine Hungersnot verursacht. 1932/33 starben vier Millionen Ukrainer. Ab 1991 begann die Ukraine dieses “Holodomors” verstärkt zu gedenken – das Erinnern an die Hungersnot ist Teil der unabhängigen Nationsbildung und stärkt Unabhängigkeit und Distanzierung von Russland. Nach der Orangen Revolution erklärte das Parlament in Kiew 2006 den Holodomor zum Genozid am ukrainischen Volk.

 

In ihrem Buch „Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine“ hat sich die amerikanische Historikerin Anne Applebaum dieser Sichtweise angeschlossen. Nicht alle Geschichtswissenschaftlerinnen aber sind der Meinung, Stalin habe einen Genozid an den Ukrainern geplant. Hat es sich bei der Enteignung der „Kulaken“, wie die Großbauern abfällig von den Bolschewiken genannt wurden, nicht eher um eine Mischung aus sowjetischer Misswirtschaft und russischer Arroganz gegenüber den Ukrainern gehandelt? „Hintergrund war Stalins Ziel, die Sowjetunion in kürzester Zeit zu industrialisieren“, schreibt Franziska Davies von der Uni München.

 

Die nächste Hungersnot, die gerade von Stalins indirektem Nachfolger Putin verursacht wird, dürfte aber nicht nur die Ukraine treffen.

 

Aus dem Osten bezieht Europa nicht nur Rohstoffe wie Öl, Gas und Metalle. Bisher stammt nach Angaben von Comtrade, der UN-Datenbank, ein Drittel des Weizens, der weltweit exportiert wird, aus Russland und der Ukraine.

 

Mitten im Krieg aber kann in Europas Kornkammer weder gesät noch geerntet werden. Der Weizen ist ein weiterer Kollateralschaden des Putinschen Krieges.

 

Ein großer Teil des Getreides aus dem europäischen Osten geht in die Levante, den Nahen Osten und nach Nordfrika. Schon vor Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hatte die Coronapandemie die Preise für Nahrungsmittel in die Höhe getrieben. Lieferketten waren unterbrochen und Energiepreise gestiegen.

 

Ägypten ist mit zehn Prozent der größte Weizen-Importeur der Welt. Ein Großteil kommt aus Russland und der Ukraine. (Österreich hat 2019 nur 0,4 Prozent importiert, mehrheitlich aus Ungarn und Tschechien.) Tunesiens Weizen kommt fast zur Hälfte aus der Ukraine und Russland. Im kriegsgeschüttelten Jemen ist es ein Drittel.

 

Im Jemen stehen bereits jetzt acht Millionen Kinder knapp vor der Hungersnot. Wenn das Getreide noch knapper und teurer wird, hungern noch mehr Menschen.

 

Wenn die Leute nichts mehr zu essen haben, gibt es Hungerrevolten....

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© 2018 Tessa Szyszkowitz