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Der Russland-Kenner Ivan Krastev hat Wladimir Putin bei einem Abendessen 2014 kennengelernt. Er spricht über die Veränderungen im Weltbild und die geistige Verfassung des russischen Präsidenten.
profil: Hat sich Wladimir Putin in der Isolation während der Pandemie verändert?
Krastev: Ich glaube, er dreht durch. Aber Putin selbst denkt, die Welt ist verrückt geworden. Der russische Präsident ist 69 und merklich gealtert. Er hat den Eindruck, der Westen spinnt, weil da über Schwulenehe und Ähnliches diskutiert wird. Putin soll während der Covid-Pandemie sehr isoliert gewesen sein.
profil: Dachte er wirklich, dass die Ukrainer von einer Nazi-Regierung befreit werden müssen, obwohl der ukrainische Präsident selbst Jude ist?
Krastev: Ja, Putin sieht in Kiew eine Gruppe von nationalistischen Nazis am Werk. Außerdem traut der russische Präsident seinen eigenen möglichen Nachfolgern nicht. Er denkt: Wenn ich das alles nicht jetzt in Ordnung bringe, dann ist es vielleicht zu spät.
profil: Wer könnte ihm denn nachfolgen?
Krastev: Es wäre Science-Fiction, wenn ich darüber spekulieren würde. Putin selbst hat keinen Nachfolger in Stellung gebracht, weil er sich damit zu einer lahmen Ente machen würde. Er hat nicht vor, in Pension zu gehen. Es wird nie ein normales Leben für ihn geben. Sein Palast am Schwarzen Meer, den seine Freunde für ihn gebaut haben, hat alles, was er braucht. Einen Nachtclub zum Beispiel - er kann ja nie in einen echten Nachtclub gehen. Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass sich Putin, als Gaddafi in Libyen getötet wurde, stundenlang die Aufnahmen angesehen hat, wie der tote Diktator durch die Stadt geschleift wurde. Daran muss ich jetzt immer denken. Putin steht mit dem Rücken an der Wand.
profil: Das macht ihn noch gefährlicher.
Krastev: Dazu kommt, dass er fürchtet, gedemütigt zu werden. Er war der Vertreter einer Supermacht, und dann war es vorbei. Die jungen Russen sehen das nicht mehr so. Er aber will Rache. Es ist keine große Strategie dahinter. Warum hat er den Fernsehturm in Kiew angegriffen? Weil die Amerikaner 1999 in Belgrad den Fernsehturm bombardiert haben. Viele beschrieben Putin als jemanden, der sehr kalkuliert agiert und Spiele spielt. Aber ich höre aus seinem Umfeld - und heutzutage hört man sehr wenig -, dass er privat das Gleiche sagt wie öffentlich. Wir sollten ihn beim Wort nehmen.
profil: War es früher anders, hat er sich verstellt, als er sagte, Russland sei ein Teil Europas?
Krastev: Wenn wir Putin verstehen wollen, müssen wir in die Zeit vor seiner Präsidentschaft gehen. Er war nicht in der Sowjetunion, als sie zusammenbrach. Er war in Ostdeutschland. Es ist schwierig, nicht in der Heimat zu sein, wenn diese durch einen revolutionären Moment geht. Er hat es nicht erlebt, und er kann nicht verstehen, warum die berühmten Geheimdienste nicht eingegriffen haben. Und warum die zweitgrößte Supermacht mit all ihren Nuklearwaffen nichts unternommen hat.
profil: Dieses Trauma bricht jetzt auf? Er hat sogar den Einsatz von Atomwaffen ins Spiel gebracht.
Krastev: Genau. Nicht, dass er die Welt damit zerstören wird. Aber er könnte taktische Atomwaffen in die Luft schießen oder im schlimmsten Fall in der Ukraine einsetzen. Es müssen auch nicht Atomwaffen sein, er verfügt auch über Vakuum-Bomben und Thermowaffen. Die Flammenwerfer mit thermobarischen Sprengköpfen legen alles im Umkreis von 300 Metern in Asche. Er will zeigen, dass nichts ausgeschlossen ist.
profil: Gerade mit Wien und Berlin verbindet ihn doch aber eigentlich auch eine gewisse Nähe, empfindet er sich als unser Feind?
Krastev: Am Anfang war er ein Sowjetmensch. Dann hat er versucht, sich als postsowjetischer Mensch zurechtzufinden. Er war fasziniert von Deutschland, er wollte verstehen, wie Deutschland funktioniert. Die moderne Welt hat ihn interessiert. Er wollte seine Reputation darauf aufbauen, dass er Russlands Platz im Westen definierte. Russland hat zum Beispiel als eines der ersten Länder nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 den USA zugesagt, dass es den Krieg gegen den Terror mitkämpfen würde.
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