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Little England statt Global Britain

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Der Brexit war in erster Linie ein Projekt der Engländer. Nun droht das Vereinigte Königreich an den wirtschaftlichen und politischen Folgen zu zerbrechen. Das anvisierte Gemeinschaftsprojekt Global Britain bleibt auf der Strecke.

  • Schwache Bilanz. Zwei Jahre nach dem Brexit steht die britische Wirtschaft deutlich schlechter da als mit der Europäischen Union.
  • Drohende Spaltung. Die Nationen des Vereinigten Königreichs driften zunehmend auseinander, sodass Abspaltungen drohen.
  • Mehr Abschottung. Die britische Regierung setzt auf der Suche nach Sündenböcken auf Nationalismus und Rückzug.
  • Chance nutzen. Der Brexit sollte als Möglichkeit gesehen werden, „Global Britain“ neu zu erfinden und den Weg der Öffnung zu suchen.

London im vergangenen Herbst: Autoschlangen vor den Tankstellen, leere Regale in Supermärkten und geballte Schadenfreude in Europa – der Mangel an LKW-Fahrern und die daraus folgenden Versorgungsmängel sind ein harter Schlag für den Stolz jener Briten, die für den Brexit gestimmt hatten. Der Austritt aus der EU, so hatte es Meisterpopulist Boris Johnson versprochen, sollte den Briten „die Kontrolle zurückbringen“ – über ihre Insel, ihre Grenzen und über ihren Arbeitsmarkt.

Das ist bisher nicht eingetreten. Im Gegenteil. Britannien hat die Kontrolle über die Supermarktregale verloren. Sowohl Billigarbeitskräfte wie hochqualifiziertes Personal zieht es nicht mehr aus der EU auf die britische Insel. Seit die Briten die EU am 31. Jänner 2020 offiziell und – nach der Übergangsfrist – Ende 2020 endgültig verlassen haben, ist die Freizügigkeit von Waren und Personen gestrichen.

Sündenbock Corona

Wegen der Covid-Pandemie fiel der Ausfall an EU-Immigranten zuerst bei dringend benötigtem Personal in den Krankenhäusern auf. Als der Druck auf das Gesundheitssystem im Sommer 2021 nachließ, begannen sich die Lücken in anderen Bereichen zu zeigen.

Die Regierung von Boris Johnson tut so, als wäre Covid an allem schuld. Das stimmt nur zum Teil. Von 100.000 fehlenden LKW-Fahrern sind rund 40.000 der Tatsache geschuldet, dass während der Corona-Pandemie Führerscheinprüfungen nicht erlaubt waren. Aber rund 25.000 Fahrer aus der EU kommen einfach nicht mehr auf die Insel, weil sich das seit dem Austritt der Briten aus dem EU-Binnenmarkt für sie nicht mehr rentiert. Selbst als die Regierung im Herbst 2021 5.000 temporäre Arbeitsvisa für LKW-Fahrer ausgab, bewarben sich innerhalb von zwei Wochen nur 20 Fahrer aus der EU darum.

Brexit ist doppelt so schlimm wie Covid für die britische Wirtschaft.

Richard Hughes (Office for Budget Responsibility)

Auch bei den Geflügelzerteilern hapert es am Nachschub an Arbeitswilligen, die früher gerne temporär – auch nur für Saisonarbeit – nach Großbritannien kamen. Seit sich die britische Insel abgeschottet hat, ist es damit vorbei. Laut dem britischen Office for National Statistics haben 200.0000 EU-Bürger allein 2020 und insgesamt 300.000 Osteuropäer in den vergangenen zwei Jahren der Brexitinsel den Rücken gekehrt.

Für die Wirtschaft war der Brexit erst einmal ein harter Schlag. Der Warenhandel mit der EU brach im ersten Quartal 2021 um 23 Prozent ein. Händler hatten Waren gehamstert, um Lieferschwierigkeiten nach dem Ausstieg aus dem Binnenmarkt vorzubeugen. Teilweise war auch die Pandemie am Handelseinbruch schuld.

Außenhandel geschrumpft  

Doch selbst die Regierung hatte mit ökonomischen Einbußen nach dem unmittelbaren Brexit gerechnet, weil der Zugang zum größten Handelspartner mit einem Markt von 440 Millionen Einwohnern, in den bisher 43 Prozent der britischen Exporte gegangen waren, durch den Austritt aus dem EU-Binnenmarkt erschwert wurde. Statt Waren im Wert von 17,4 Milliarden Euro exportierten die Briten im Jänner 2021 nur Waren für 9,4 Milliarden in die EU.

Zahlen & Fakten

Von den versprochenen wirtschaftlichen Vorteilen des Brexit ist derzeit nichts zu spüren. Der Sektor der Finanzdienstleistungen in der Londoner City leidet ebenso unter den neuen Bedingungen. 440 Firmen sind teilweise oder ganz in die EU umgezogen. Experten des Institute for Fiscal Studies rechnen damit, dass sich die Entfremdung zwischen Großbritannien und der EU über die nächsten Jahre noch verschärft. „Brexit ist doppelt so schlimm wie Covid für die britische Wirtschaft“, sagt Richard Hughes vom Office for Budget Responsibility. Das potentielle britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpft demnach um vier Prozent wegen des EU-Austritts und zusätzlich noch zwei Prozent wegen der Corona-Pandemie.

Die ersten unabhängigen Freihandelsabkommen, die das Vereinigte Königreich geschlossen hat, machen die Verluste nicht wett. Die Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland sollen die britische Wirtschaft über 15 Jahre um lediglich 0,01 bis 0,02 Prozent wachsen lassen.

Für die Fisch'

Enttäuscht wurden auch die englischen Fischer. Sie hatten für den Brexit gestimmt, weil ihnen ein „unabhängiger Küstenstaat“ versprochen worden war. Doch auch nach der Übergangsphase bis 2026 wird die britische Regierung mit den EU-Staaten darüber verhandeln müssen, wie sich der Zugang zu den Küstengewässern für EU-Fischer mit dem Zugang zum EU-Markt für britischen Fisch abgleichen lässt.

Die britischen Fischer bleiben jetzt schon oft auf ihren Hummern und Austern sitzen. Trotz Handelsabkommens mit der EU, das die Briten in letzter Minute zu Weihnachten 2020 geschlossen hatten, fallen neue Hygiene- und Sicherheitschecks an. Längeres Warten ist gerade beim Handel mit schnell verderblichen Meeresfrüchten oft nicht drin. Der Streit zwischen britischen und französischen Fischern über Fangrechte spitzt sich zu.

Der große Preis, den Boris Johnson seinen Wählern vor zwei Jahren versprochen hatte, war ein Freihandelsabkommen mit den USA – der zweitgrößte Handelspartner der Briten nach der EU. Doch für Washington hat ein solcher Deal keine Priorität, wie britische Regierungsmitglieder nach einem Staatsbesuch konsterniert feststellen mussten.

Uneiniges Königreich

Zu den Langzeitfolgen des Brexit zählt nicht nur eine Neuordnung der Außen- und Wirtschaftsbeziehungen. Auch im Vereinigten Königreich selbst verändern sich die Verhältnisse der vier Nationen zueinander.

Der Brexit war von Anfang an ein nationalistisches Projekt der Engländer. Denn Schotten und Nordiren haben in ihrer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Die Waliser suchen ihr Heil traditionell eher im Schutze Englands.

Die Engländer, mit 56 von 67 Millionen Briten klar die dominierende Nation, streben nach einer Neudefinition der Bedeutung Britanniens. Das britische Empire war Ende der 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts mit der Unabhängigkeit Indiens langsam zerfallen. Danach näherte man sich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an und trat ihr 1975 auch bei.

Global Britain

Der Brexit sollte jetzt zu einem Neuanfang führen, zu einem Global Britain. Doch im 21. Jahrhundert ist es nicht so einfach, als mittelgroße Handelsmacht von den Supermächten Amerika und China auf Augenhöhe behandelt zu werden.

Zudem scheinen die Briten die Chance zu verspielen, den Brexit gesellschaftlich als Katharsis zu nutzen. Die britische Regierung setzt sich kaum mit den dunklen Seiten der Empire-Vergangenheit auseinander. Pläne für ein Museum der Sklaverei in London werden zwar vom Labour-Bürgermeister Sadiq Khan unterstützt, sind aber noch nicht weiter fortgeschritten. Von Seiten der Regierung gibt es mäßiges Interesse, die verstaubte Sicht auf die gloriose Vergangenheit in den Kolonien zu entsorgen.

Die Briten scheinen die Chance zu verspielen, den Brexit gesellschaftlich als Katharsis zu nutzen.

Eine ehrliche Auseinandersetzung würde die Marke „Global Britain“ zumindest in Frage stellen. Die Handelsnation Britannien hat ihre Interessen mit Soldaten durchgesetzt und ihr Vermögen mit Gütern aus den Kolonien und mit Sklavenhandel gemacht.

Krise des Konservatismus

Die konservativen Brexit-Anhänger innerhalb der Regierung und den Hinterbänken des Unterhauses radikalisierten sich viel mehr in den vergangenen Jahren und forderten eine immer reinere Lehre. Der Brexit musste pur werden. Am Ende verließen die Briten nicht nur das politische Projekt EU, sie flohen auch aus dem für sie lukrativen Binnenmarkt.  

Was beim Sieg der Brexiteers auf der Strecke blieb, war nicht nur die ökonomische Vernunft. Auch der zivilisierte Konservativismus, der einen Teil der britischen Tories seit Jahrhunderten auszeichnet, wurde geopfert. So sitzt jetzt auf der Regierungsbank mit Priti Patel eine Innenministerin, deren einst aus Uganda geflüchtete indische Eltern heute kaum mehr Chancen hätten, auf die britische Insel zu kommen. Patel verschärft nicht nur die Immigrationsgesetze. Sie droht auch, Asylwerber, die auf Schlauchbooten an der englischen Küste landen, wieder zurück nach Frankreich zu schicken.

Nationale Konflikte wiederbelebt

Nicht nur in England rumort es. Der schottischen Unabhängigkeitsbewegung hat der Brexit neue Energie verschafft. 2014 hatten die Schotten gegen eine Sezession von England gestimmt. Danach schien die Frage auf mindestens eine Generation hinaus erledigt zu sein. Doch mit dem Brexit wurden die Karten neu gemischt.

Die Schotten sind mehrheitlich sozialdemokratisch, nationalistisch und proeuropäisch eingestellt. Der Austritt aus der EU geschah gegen ihren Willen. Mit Nicola Sturgeon haben die Schotten eine gewiefte Politikerin an ihrer Spitze, die mit einigem Geschick ihre Nation doch noch aus dem Vereinigten Königreich führen könnte.

Auch in Nordirland führt der Brexit zu gehörigen Spannungen. Die Nordiren blieben Teil des EU-Binnenmarktes, so wurde es im Scheidungsvertrag festgelegt. Damit konnte die Grenze zur Republik Irland „grün“ – also frei von Grenzkontrollen – gehalten werden, was wiederum eine Grundforderung des Belfaster Friedensabkommens von 1998 darstellt.

Dafür aber stimmte die britische Regierung bei den Verhandlungen mit der EU einer Zollgrenze im irischen Meer zwischen Nordirland und Großbritannien zu. Das wiederum brachte die paramilitärischen Gruppen der britischen Loyalisten auf den Plan, die mit Gewalt drohen. Die britische Regierung will deshalb den Scheidungsvertrag mit seinem Nordirland-Protokoll einfach einseitig außer Kraft setzen. Die EU zeigt sich bislang kompromissbereit, um den Frieden auf der irischen Insel nicht zu gefährden.

Eines aber ist klar: Unter den neuen Umständen nähern sich auf Dauer das britische Nordirland und die irische Republik einander an. Ohne Nordiren und Schotten bliebe vom Vereinigten Königreich nur noch England mit Wales übrig.

Stimmung kippt

So Boris Johnson den Imageschaden wegen Verstößen gegen Lockdown-Regeln übersteht, liegt es an seiner Regierung, die Brexit-Folgen zu bewältigen. Die nächsten Parlamentswahlen sind erst für 2024 geplant. Doch nach einer Umfrage des Observer sind inzwischen 44 Prozent der Briten der Meinung, dass der Brexit einen negativen Effekt auf ihre Wirtschaft hat. Nur 25 Prozent glauben noch, dass ihr Land wirtschaftlich davon profitiert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung macht demnach auch den Brexit für den Anstieg von Preisen in Geschäften verantwortlich.

Bleibt Johnson bei seinem populistischen, antieuropäischen Kurs, dann gefährdet er nicht nur außenpolitisch die Position des Vereinigten Königreichs. Der Brexit wäre dann ein Triumph des englischen Nationalismus – oder ein Pyrrhussieg, in dem England am Ende statt als Global Britain als Little England zurückbleibt.

Conclusio

Zwei Jahre nach dem Brexit ist von den erhofften Vorteilen wenig zu sehen. Stattdessen sorgen neue Handelshürden und das Ende der europäischen Personenfreizügigkeit für Versorgungsengpässe im Inselstaat. Die Regierung unter dem populistischen Brexiteer Boris Johnson facht derzeit den englischen Nationalismus an, statt dem Vereinigten Königreich eine gemeinsame Vision zu bieten. 

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz