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„Da können schon ein paar Tomaten fliegen“

https://www.cicero.de/aussenpolitik/grossbritannien-cancel-culture-gesetz-universitaeten-oxford-identitaetspolitik

An englischen Universitäten eskaliert der Konflikt um „Free Speech“ und „No-Platforming“. Politiker oder Wissenschaftler werden ausgeladen, wenn sie nicht ins Wertemuster der Studierenden passen. Jetzt soll es ihnen ein Gesetz ermöglichen, die Unis zu verklagen. Aber löst das das Problem?

Manche mögen Ken Loach, andere verabscheuen ihn. Der englische Filmemacher hat zwei Mal die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes gewonnen, das letzte Mal 2016 mit „I, Daniel Blake”. Im Film zeigt der sozialkritische Sozialist, wie unzulänglich der britische Sozialstaat für Arbeitslose sorgt. Loachs soziales Engagement wird von niemandem in Frage gestellt.

Doch als er am 9. Februar von der Oxford Universität in England zu einem Vortrag eingeladen worden war, forderten jüdische Studierende, ihm den Auftritt zu verwehren. Der Filmemacher habe sich eklatanter antisemitischer Aussagen schuldig gemacht. Loach ist ein heftiger Kritiker israelischer Regierungspolitik. So hält er etwa den steigenden Antisemitismus in Europa nach israelischen Operationen im Gazastreifen für „verständlich”. Die Gleichsetzung von Israelis und Juden ist laut der international anerkannten IHRA-Definition aber als antisemitisch anzusehen.

Elite-Unis halten „Free Speech“ hoch 

Judith Buchanan, Rektorin an St Peter’s College, an dem Loach in Oxford einst studiert hatte, ließ sich trotz der Proteste nicht von der Veranstaltung abbringen: „No-Platforming“ käme nicht in Frage, die Universität Oxford habe dazu einen klaren Beschluss gefasst. Buchanan entschuldigte sich allerdings auch bei den Studenten, sollte sie sie mit der Einladung Loachs „verletzt“ haben.

An den britischen Universitäten wird heute vermehrt nicht über Inhalte gestritten, sondern darum, wer sie vortragen darf. Handelt es sich dabei um „Cancel Culture“, also um den Versuch, Leuten, deren Meinungen man nicht mag, die Bühne zu entziehen? Oder geht es um eine Verfeinerung des Verständnisses, welche Kultur eine Gesellschaft sich gibt? Die Oxford University steht im Zentrum der Diskussion. „Free Speech”, die Meinungsfreiheit, ist ein Wert, der gerade an dieser englischen Eliteuni hoch gehalten wird. Vom Earl of Wilmington Ende des 17. Jahrhundert bis Boris Johnson formten Politikstudenten im Debattierclub Oxford Union Denken, Redekunst und Schlagfertigkeit. 28 britische Premierminister hat die Uni hervorgebracht.

„No-Platforming“ statt „Free Speech“

Doch gerade diese Kerndisziplin der englischen Politelite wird jetzt von Studierenden in Frage gestellt. Statt „Free Speech” wird vermehrt „No-Platforming” gefordert. Antisemiten, Rassisten, Imperialisten, Sexisten, Homophobe und Thransphobe – es gibt viele Gründe, warum kritische Studierende Redner mit „No-Plattforming“ drohen.

Das kann durchaus eine positive Entwicklung sein. Wer will schon Rassisten eine Bühne bieten? Das Problem aber ist: Wer entscheidet, wer nicht mehr auftreten darf? Um die Diskussion zu entschärfen, hat der konservative Erziehungsminister Gavin Williamson einen Gesetzesvorschlag vorgestellt, wonach Vortragende, die von No-Platforming betroffen sind, die Unis im Nachhinein verklagen können.

„Es können Tomaten fliegen“

Kritiker halten so ein Gesetz für unsinnig. „Die Oxford Universität hat eine klare Position – No-Plattforming wird abgelehnt. Darüber haben sich alle Colleges mit den Studierenden verständigt“, sagt Chané Rama Dahya. Die Masterstudentin unterstützt die offizielle Haltung ihrer Uni, auf Meinungsfreiheit zu bestehen: „Wer zu uns kommt, muss sich dann aber auch unserer Kritik stellen. Da können schon ein paar Tomaten fliegen.”

In Oxford begann die Diskussion um No-Platforming mit der Forderung von Studierenden, die Statue von Cecile Rhodes aus der Fassade des Oriel-Colleges zu entfernen. Sie griffen eine Dekolonisierungskampagne auf, die 2015 von südafrikanischen Studierenden in Kapstadt begonnen worden war. Rhodes war britischer Imperialist, der 1882 die Diamantenfirma De Beers gegründet hatte. Einen Teil seines Profits aus den Geschäften in Afrika spendete er großzügig an die englische Elite-Uni Oxford.

Die Innenministerin wird ausgeladen 

2021 scheint es kaum mehr zeitgemäß, einen kolonialistischen Gönner zu ehren. „Unsere Uni kann sich nicht mit imperialistischen Profiteuren oder mit sexistischen, transphoben Rassisten gemein machen”, sagt Chané Rama Dahya. Die 30-jährige Studentin ist auch in der Oxford Student’s Union engagiert. Für sie geht es darum, dem Ruf der exzellenten Universität gerecht zu werden. Nach einigem Widerstreben hat die Universität nun den Beschluss gefasst, die Statue von Cecile Rhodes ins Museum zu schaffen. „Dort kann man ihn kontextualisieren”, sagt Rama Dahya zufrieden.

Doch die Diskussion über einen neuen Blick auf alte Helden ist damit längst nicht beendet. Manchmal fürchten Veranstalter Proteste und geben der Forderung nach „No-Platforming“ nach. Große Wellen schlug im März 2020 die plötzliche Ausladung der früheren konservativen Innenministerin Amber Rudd. 30 Minuten vor ihrer Rede bei einer Frauenkonferenz in Oxford wurde ihr mitgeteilt, sie sei wegen ihrer Rolle im Windrush-Skandal untragbar geworden. Der Windrush-Skandal drehte sich um Immigranten aus Jamaika, die als Arbeitskräfte in den fünfziger Jahren aus der Karibik nach Großbritannien geholt worden waren, als Jamaika noch zum Britischen Empire gehörte. Unter der konservativen Regierung, der Rudd angehörte, wurden diese Menschen ein halbes Jahrhundert später nicht etwa eingebürgert, sondern deportiert.

Eine andere Hautfarbe, eine andere Perspektive 

Amber Rudd zeigte sich schockiert über ihre Ausladung. Die Universität bat die Ex-Ministerin um Entschuldigung. Die Studentinnengruppe, die sie ursprünglich eingeladen hatte, entschuldigte sich auch. Allerdings nicht bei der Politikerin, sondern bei den BAME-Studierenden, die sich von der Einladung Rudds verletzt gefühlt hatten. BAME steht für British-Asian-Minority-Ethnic, also für alle nicht-weißen Minderheiten im Vereinigten Königreich.

„Weiße sind privilegiert, sie wissen es oft gar nicht”, sagt Chané Rama Dahya. Sie stammt aus einer indischen Familie, ist in Südafrika aufgewachsen und hat in Deutschland studiert, bevor sie nach Oxford gegangen ist. „Keiner von uns geht auch nur die Straße hinunter, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden, welche Hautfarbe wir haben“, sagt sie. „Das verändert die Perspektive. Es ist gut, wenn unsere Stimmen jetzt auch gehört werden.” Rama Dahya aber hält es für falsch, Amber Rudd die Bühne wegzunehmen. Es müsse Platz für alle Meinungen geben.

Hauptquartier der Schneeflocken 

Der erzkonservative Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg nennt seine Alma Mater verächtlich „Snowflake Central“, also das Hauptquartier der Schneeflocken. So wird die Generation der derzeitigen Studierenden gerne spöttisch und verächtlich von jenen genannt, die sie für übersensibel halten. Was aber ist übersensibel? Hinter der Verletzlichkeit der Millenials – also jener, die rund um die Jahrtausendwende geboren wurden und jetzt an den Unis studieren – stecken die Verletzungen, die Angehörige von Minderheiten über Generationen erlitten haben.

Weiße Studierende solidarisieren sich oft mit den Anliegen ihrer Kommilitonen. Das beflügelt sowohl die „Metoo” – wie die „Black Lives Matter” – Bewegung. Vielen geht die Radikalität der No-Plattformer andererseits aber zu weit, weil sie sich oft gegen die eigentlichen Verbündeten richtet.

„Geschlecht und Körper sind keine Grenzen" 

Auch Selina Todd wurde die Plattform entzogen. Die Oxford-Professorin für moderne Geschichte, die auf Arbeiter- und Frauengeschichte spezialisiert ist, traute ihren Ohren nicht, als sie vor einem Jahr vom „Oxford International Women’s Festival” ausgeladen wurde. Die Organisatoren informierten die feministische Professorin darüber, dass Trans-Aktivisten sich gegen sie ausgesprochen hatten.

Todd engagiert sich für spezifische Frauenrechte. Das gilt unter jüngeren Aktivistinnen, die sich für Transgender-Rechte einsetzten, als Ausladungsgrund: „Wer auf Rechte besteht, die auf dem einen oder anderen Geschlecht beruhen, lenkt davon ab, dass unsere materiellen Bedingungen als Frauen, und all jener, die sich als Frauen bezeichnen, ständig schlechter werden”, sagte die Aktivistin und Autorin Lola Olufemi in einem Statement, mit dem sie begründete, warum sie nicht mit Todd an einer Konferenz teilnehmen würde: „Geschlecht und der Körper sind für mich keine endgültigen Grenzen.”

In Oxford studieren mehr Frauen als Männer  

Gerade für ältere Feministinnen, die sich in den siebziger Jahren in der Abtreibungsdebatte für Frauenrechte engagiert haben, ist es schwer verständlich, dass geschlechterspezifische Rechte 2021 von der nächsten Generation der Feministinnen abgelehnt werden. Genau dies aber ist der Trend.

Heute gibt es in Oxford, wo erst seit 100 Jahren Frauen studieren dürfen, schon zehn Prozent mehr Studentinnen als Studenten. 2019 lag der Anteil bei 54,4 zu 45,6 Prozent. An der Uni gibt es inzwischen nicht nur „shes” und „hes”, sondern auch „thems”, also Menschen, die sich nicht als eines der beiden Geschlechter definieren. Der Prozentsatz der nicht-binären Studierenden ist zwar sehr klein, aber sie werden dennoch einbezogen, wenn es um ihre Interessen geht.

Eine Atmosphäre der Angst 

Der neuen Toleranz der Inklusivität und Rücksichtnahme steht die neue Intoleranz des No-Platforming gegenüber. Diesen Gegensatz auszugleichen wird die Universität Oxford noch viel Energie kosten. Dass Studierende wie Lehrende sich um die Meinungsfreiheit in Oxford sorgen müssen, ist gerade für eine der ältesten und stolzesten Universitäten der Welt eine heikle Entwicklung.

„Ich bin prominent genug, ich lasse mich nicht durch No-Platforming entmutigen”, sagt Professor Selina Todd in einem BBC-Interview. Sie warnt allerdings auch: „Es ist keine Frage, dass es an der Uni in Oxford inzwischen eine Atmosphäre der Angst gibt.”

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© 2018 Tessa Szyszkowitz