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Operation Nawalny

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Alexej Nawalny ist kein Einzelkämpfer, sondern der Kopf eines Unternehmens, das Russlands Autokrat Wladimir Putin die Macht streitig machen will.

Von Tessa Szyszkowitz und Simone Brunner

Die Leere des Büros verrät, dass es nur vorübergehend genutzt wird. Ein paar Kabel hängen von einem Regal. Der Mann, der vor der Computerkamera Platz genommen hat, verstärkt den Eindruck des Provisoriums. Man sieht Leonid Wolkow an, dass er hier nicht hergehört, und auch, dass die vergangenen Tage selbst für einen russischen Oppositionellen überdurchschnittlich intensiv waren. Wolkow-dunkle Augenringe, bullige Statur, Vollbart-wirkt erschöpft.

Seit Alexej Nawalny, der Herausforderer des autoritär regierenden russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin, in Moskau verhaftet und zu drei Jahren Straflager verurteilt wurde, ist der 40jährige Computertechniker als Nummer zwei der kremlkritischen Opposition die erste Ansprechperson für alle.

Der erste Eindruck erweist sich rasch als voreilig. Leonid Wolkow ist voller Energie, und was er zu sagen hat, ist durchaus erstaunlich: "Es läuft alles nach Plan, so wie wir es mit Alexej vor zwei Wochen in Berlin ausgemacht hatten." (Siehe Interview.) Drei Jahre Straflager, und alles läuft nach Plan?

Wolkow leitet als Direktor für politische Operationen seit 2016 den Aufbau des Nawalny-Netzwerkes in den russischen Regionen, und er überwacht die Finanzierung der Bewegung. Schon 2013 managte er Nawalnys Kandidatur bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau. Bei ihm laufen die organisatorischen Stränge der Straßenproteste, Wahlkämpfe, Antikorruptionsvideos und der Kampagne in den sozialen Medien zusammen. Obwohl der Machtkampf zwischen Alexej Nawalny und Wladimir Putin jenem zwischen David und Goliath gleicht-der eine sitzt jetzt erst einmal im Knast, der andere schon seit 20 Jahren im Kreml-,wirken die russischen Oppositionellen seit Wochen gewitzter als der russische Präsident. So als folge Putin einem Drehbuch, das Nawalny geschrieben hat.

Tatsächlich ist es ein wenig so, bloß schreibt Nawalny das Drehbuch nicht allein. Er bietet Putin öffentlich die Stirn, doch hinter ihm steht ein Unternehmen, das für ihn arbeitet. Sein Job ist es, im Scheinwerferlicht zu stehen und die härtesten Schläge abzubekommen.

Der Märtyrer

Am 17. Jänner dieses Jahres war Alexej Nawalny zur Verblüffung der Öffentlichkeit von Berlin nach Moskau zurückgeflogen. Der russische Oppositionelle hatte sich in Deutschland von einem Anschlag durch das Nervengift Nowitschok erholt. Dieses war ihm von einem Kommando des russischen Geheimdienstes FSB im August verabreicht worden. Dass die Welt dies heute zu wissen glaubt, liegt nicht daran, dass der russische Staat das Verbrechen untersucht hätte. Vielmehr hat Nawalny mit seinen Mitarbeitern die Namen der Attentäter herausgefunden, einen davon unter falschem Namen angerufen und ihn dazu verleitet, ihm die ganze Geschichte des versuchten Mordes zu erzählen-wobei der Geheimdienstmitarbeiter natürlich nicht ahnen konnte, dass er mit seinem Opfer telefonierte.

Mit seinen unorthodoxen Methoden hat Nawalny seit rund einem Jahrzehnt die russische Regierung gereizt. Seine Stiftung für Anti-Korruption, die unter dem russischen Akronym FBK bekannt ist, produziert YouTube-Filme über die Korruption in der Kreml-Kleptokratie, die millionenfach angeklickt werden. Nawalny inspirierte auch die politische Kampagne des "Smart Voting",die alle Russen aufruft, zur Wahl zu gehen und für wen auch immer zu stimmen-bloß nicht für den Kandidaten der Kreml-nahen Partei "Einiges Russland".

Der 44-jährige Jurist, der vom Blogger mit nationalistischen, rechtslastigen Ideen zur Ikone der Putin-kritischen Opposition aufgestiegen ist, weiß, dass es für ihn keine Option ist, im sicheren Ausland, etwa in Deutschland, zu bleiben. Er muss seinen Kampf in Russland führen, sonst würde man ihn rasch vergessen. Mit beachtlichem Mut und einer fast religiös überhöhten Hingebung inszeniert er sich in seinem Kampf gegen Putin als Märtyrer für Vaterland und Demokratie.

Jetzt ist Alexej Nawalny erst einmal-tatsächlich oder vermeintlich-ausgeschaltet. Wie sieht der weitere Plan aus? Wie kann die Bewegung aktiv und sichtbar bleiben, wenn ihr charismatischer Anführer zur Abwesenheit verurteilt ist? Und nicht nur er, sondern Hunderte Mitstreiter.

 
 
 

Die Drehbuchautorin

Für Nawalnys Kernteam ist sonnenklar, dass man trotz der irrwitzigen Umstände die Arbeit fortsetzen will, auch wenn das heißt, dass man sich einem autoritären Staat mit bestausgestatteten Schlägertruppen und einem gleichgeschalteten Justizapparat entgegenstemmt. "Das war kein Prozess", sagt Maria Pewtschich über das Urteil gegen Nawalny, "das war ein Zirkus."Der Oppositionsführer hat dreieinhalb Jahre Haft dafür bekommen, dass er 2014 gegen Bewährungsauflagen verstoßen hatte, die aus einem Prozess resultierten, der vom Europäischen Gerichtshof als politisch motiviert eingestuft worden war: "An der Intensität und dem Kern unserer Arbeit wird das nichts ändern."

Maria Pewtschich sitzt in einer Küche, eine Vase mit frischen roten Tulpen im Hintergrund. Sie trägt einen schwarzen Kapuzenpulli mit dem Firmenlogo FBK. Pewtschich, die bis zuletzt kaum in der Öffentlichkeit stand und von der BBC als "unbekannteste Person der FBK-Organisation" bezeichnet wurde, gibt jetzt Interviews im 30-Minuten-Takt, fast auf die Minute genau.

Pewtschich gehört zu den Macherinnen des Medienunternehmens Nawalny. Die 34-Jährige leitet das Team für investigative Recherchen bei der Stiftung FBK und schreibt die Drehbücher für Nawalnys YouTube-Videos. Seit 2011 wurde kaum eine Enthüllung publiziert, an der sie nicht maßgeblich mitgewirkt hat.

Sie war auch bei Nawalnys Sibirien-Reise dabei, als er vergiftet wurde. Pewtschich war es, die die Plastikflaschen in seinem Hotelzimmer sicherte und nach Deutschland brachte, wo Spuren des Gifts "Nowitschok" nachgewiesen werden konnten. Sie saß mit am Tisch, als Nawalny von Berlin aus seinen Mörder anrief, der am Telefon gestand, Nowitschok auf seine Unterhose gestrichen zu haben.

Bei der Recherche war auch Christo Grozev von Bellingcat dabei. Bellingcat ist eine Aufdeckerorganisation, die mit offenen Quellen im Internet Fakten überprüft-was Bellingcat schon öfter mit dem russischen Regime in Konflikt gebracht hat. "Diese Geschichte ist so unglaublich, dass ich sie noch immer nicht so richtig glauben kann", wundert sich Pewtschich noch heute über das "russische Watergate". "Dieser Telefonanruf hat Geschichte geschrieben." 27 Millionen Mal wurde Nawalnys YouTube-Film "Ich habe meinen Mörder angerufen" angeklickt.

Noch am Krankenbett Nawalnys im Berliner Krankenhaus Charité im September 2020 hatten sie den Plan entwickelt, einen Film über Wladimir Putin zu drehen. "Wir haben uns in unseren Filmen immer auf jene Beamten konzentriert, die gerade die schlimmsten Untaten begangen hatten",sagt sie trocken. Der Auftrag zur Vergiftung Nawalnys mit dem Chemiekampfstoff Nowitschok konnte nur von ganz oben gekommen sein. Also hatte sich Wladimir Putin ihrer Meinung nach ein Video verdient.

Pewtschich klemmte sich hinter das Projekt, sammelte die Fakten, recherchierte im Dresden-Archiv über den KGB-Agenten Wladimir Putin und organisierte die Drohnenflüge über das Anwesen am Schwarzen Meer. Der Film "Putins Palast" wurde just am Tag nach Nawalnys Verhaftung veröffentlicht. Der Plan der Oppositionellen ging auf. Die Aufmerksamkeit für das Video übertraf alles bisher Dagewesene. Bis Ende vergangener Woche wurde der Film über den Protzpalast des Präsidenten 109 Millionen Mal geklickt. Das Dementi des Kreml und der Versuch, Arkadi Rotenberg, einen seiner Oligarchen als eigentlichen Besitzer hinzustellen, war wenig erfolgreich. Im Osten wie im Westen schenkt man heute Alexej Nawalny mehr Glauben als Waldimir Putin.

Trotzdem bleibt es ein ungleicher Kampf, den Nawalnys Mitarbeiter jetzt gegen das System Putin führen müssen. Über das Internet, die sozialen Medien, YouTube, Facebook und Tiktok erreichte Nawalny bisher Millionen junger Russen, die mit der drögen Kremlpropaganda im Fernsehen und dem auf Angst und Abschreckung ausgelegten Putin-Staat nichts mehr anfangen können. Das ist von Vorteil, sagt Maria Pewtschich: "Gottlob machen die ihre Arbeit so grottenschlecht."

Doch mit Nawalnys Haft hat der prominente YouTube-Kanal "Nawalny"-6,38 Millionen Abonnenten-seinen wichtigsten Proponenten verloren. "Alexej ist unser wichtigstes Gesicht", seufzt sie. Dass derzeit die wesentlichen Köpfe der Nawalny-Bewegung mit der größten Reichweite in den sozialen Medien entweder in Haft sind oder unter Hausarrest stehen-Internetverbot inklusive-macht es nicht eben leichter. Wie auch die Versuche des Kreml, Betreiber sozialer Netzwerke gesetzlich zu verpflichten, illegale Protestaufrufe zu blockieren. Da Nawalny aus der Zelle nicht mehr posten kann, trat Leonid Wolkow aus dem EU-Exil am vergangenen Donnerstag bereits selbst in einem Video auf.

 


Die Exilanten

Einerseits fehlt der charismatische Anführer, andererseits aber hat der Plan der Opposition so weit geklappt: Vor den Augen der Welt bricht der russische Staat mit einem offensichtlich politisch motivierten Urteil das Recht des russischen Oppositionsführers auf faire Behandlung. Die deutsche Regierung überlegt bereits weitere Sanktionen. Die EU-Chefs haben sich im Dezember nach dem Vorbild des amerikanischen Magnitsky-Aktes das Recht gegeben, personengebundene Sanktionen gegen Menschenrechtsverbrechen zu verhängen. "Das ist ein sehr guter Anfang", sagt Wladimir Aschurkow, der Geschäftsführer von FBK. "Wir vom Nawalny-Team haben immer klar gesagt, dass wir keine allgemeinen Sanktionen gegen Russland befürworten."

Auch Aschurkow lebt inzwischen, wie viele andere russische Kremlkritiker, in London. Der 48-jährige Ex-Banker suchte 2014 in Großbritannien um politisches Asyl an, weil ihm in Moskau ein politisch motivierter Prozess wegen seiner Arbeit mit Nawalny drohte. In "Londongrad",wie die britische Hauptstadt wegen der vielen betuchten Russen auch gerne genannt wird, kommen die modernen russischen Dissidenten wie Aschurkow und Michail Chodorkowski zusammen. Der ehemals reichste russische Oligarch, den Putin zehn Jahre in ein russisches Straflager gesteckt hatte, residiert seit seiner Entlassung 2014 in der multikulturellen Metropole. Er finanziert auch heute noch oppositionelle Projekte.

So wie auch ein paar andere illustre russische Figuren wie etwa der Besitzer von Londons hipster Weinboutique "Hedonist Wines". Jewgeni Tschitschwarkin zahlte nach Angaben von Nawalny seine Krankenhauskosten in Berlin. Neben ein paar privaten Großspendern setzt die Nawalny-Bewegung aber vor allem auf Mikrospender und Crowdfunding.

Nicht nur die Kremlkritiker suchen in London Zuflucht. Auch Putins jetziger Milliardärsfreund Roman Abramowitsch hat seine Wurzeln in den britischen Boden versenkt. Als Sponsor des Fußballclubs Chelsea war er lange ein gern gesehener Gast in England. Jetzt droht ihm wegen seiner Nähe zu Putin der Paria-Status, sein Visum dürfte nicht mehr verlängert werden. "Großbritannien und die EU sollten Abramowitsch mit persönlichen Sanktionen belegen", fordert Wladimir Aschurkow. Er hat eine Liste von acht Putinfreunden veröffentlicht, auf der neben Abramowitsch auch der ebenfalls anglophile Milliardär Alischer Usmanov steht. "Die beiden sind Schlüsselfiguren und Profiteure der russischen Kleptokratie mit signifikanten Verbindungen in den Westen",sagt Aschurkow. Wenn sie keine Fußballclubs und Anwesen mehr kaufen können, wenn ihre Bankkonten eingefroren werden und ihre Einreisevisa nicht mehr gelten, dann sei der erste Schritt getan, so Aschurkow: "Nur so können Putin und seine Gefolgsleute spüren, dass sie nicht so weitermachen können."

Zunächst zögerte die EU nach dem Urteil gegen den russischen Oppositionsführer, weitere Sanktionen zu verhängen. Der Kampf seiner Mitstreiter ist in jedem Fall auf lange Zeit angelegt. Denn Alexej Nawalny und seine Mitarbeiter sind ideologisch und strategisch gesehen keine Revolutionäre im Stile von 1789 in Frankreich oder 1917 in Russland. Sie sind eher für einen Regierungswechsel im Sinne der bürgerlichen Revolutionen von 1848.

Gerade im russischen Gedächtnis ist eine Revolution eine blutige Angelegenheit. Die Zarenfamilie wurde 1918 erschossen, die Bolschewiken errichteten keine Demokratie, und am Ende ließ Josef Stalin seinen einstigen Mitstreiter Leo Trotski im Exil von einem Meuchelmörder mit einem Eispickel erschlagen. "Wir wollen bestimmt keine Revolution",sagt Wladimir Aschurkow in London. "Wir kämpfen um Gerechtigkeit für Alexej Nawalny und für eine demokratische Regierung in Russland."

Der Epilog des Drehbuches zum Machtkampf Nawalny gegen Putin kann erst in ein paar Jahren geschrieben werden. Es könnte eine bloße Fußnote zum Eintrag Wladimir Putins im Buch der Geschichte werden-oder das letzte Kapitel, das vom Ende seiner Herrschaft erzählt.

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz