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Russisches Roulette

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Der Oppositionelle Alexei Nawalny lässt sich weder durch Vergiftung noch durch Verhaftung zum Schweigen bringen. In der Frage von Sanktionen ist die EU in der Zwickmühle - sie will Menschenrechte verteidigen und gleichzeitig ihre Energieverträge mit Russland nicht gefährden.

von Siobhán GeetsTessa Szyszkowitz

"Guten Morgen aus dem berühmten Sicherheitstrakt des Gefängnisses, Matrosenruhe'", sendet Alexei Nawalny am Tag nach seiner dramatischen Verhaftung aus seiner Zelle in einem Moskauer Knast Grüße an seine Follower. Zumindest stellt der russische Oppositionelle es mithilfe seiner Mitarbeiter so dar, als schriebe er selbst in dieser verzweifelten Lage noch aufgeräumte Instagram-Posts: "Bisher habe ich darüber nur in Büchern gelesen, aber jetzt sehe ich es mit eigenen Augen. Ein russisches Leben."

Mit der Entscheidung, nach Russland zurückzukehren, ist Nawalny vom Blogger, der gegen die Korruption in der russischen Regierung kämpft, zum russischen Dissidenten vom Range eines Andrej Sacharow - Nuklearphysiker, Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger - und eines Alexander Solschenitzyn, dem Autor des "Archipel Gulag", aufgestiegen. Beide ließen sich trotz sowjetischer Repressionen in ihrer Kritik nicht beirren. Die an Selbstaufopferung grenzende, legendäre Zivilcourage russischer Regimekritiker erreicht mit dem 44-jährigen Alexei Nawalny gerade einen neuen Höhepunkt.

Seit Jahren schon kämpft der Kremlkritiker von der Straße aus gegen die Korruption in Wladimir Putins Reich. Bei den Massenprotesten im Winter 2011 prägte Nawalny den Begriff "Partei der Gauner und Diebe" für die Kremlpartei "Einiges Russland". Präsident Wladimir Putin schlug mit fadenscheinigen Gerichtsverfahren zurück, ließ ihn verurteilen und einkerkern. Doch der studierte Jurist konnte dadurch nicht zum Schweigen gebracht werden.

Nervengift in der Unterhose

Am 20. August aber gelang es dem russischen Geheimdienst beinahe, den Widersacher des Kremlherrn endgültig aus dem Verkehr zu ziehen. Eine Gruppe von FSB-Offizieren vergiftete ihn in Sibirien mit dem Nervengift Nowitschok. Dass der hochgiftige Kampfstoff in seiner Unterhose angebracht worden war, erfuhr Nawalny später nicht etwa durch eine gerichtliche Untersuchung. Vielmehr fand er mithilfe der Aufdecker-Plattform Bellingcat einen seiner Verfolger, rief ihn unter falschem Namen an und brachte ihn dazu, ihm am Telefon das Mordkomplott in allen Details zu schildern.

An Lebensmüdigkeit grenzende Chuzpe ist für russische Oppositionelle nicht ungewöhnlich. Nawalnys Schicksal - Verfolgung, Vergiftung, Verhaftung - ebenso wenig. Seit Wladimir Putin im Kreml sitzt, greift der russische Geheimdienst FSB zu noch härteren Mitteln. Die unbequeme Journalistin Anna Politkovskaja wurde erst vergiftet, dann 2006 hinterrücks in ihrem Hauseingang erschossen. Der russische Oppositionelle Boris Nemtsow wurde 2015 auf der Moskwa-Brücke in Sichtweite des Kreml ermordet. In Putins Russland sind außergerichtliche Exekutionen, deren Drahtzieher nie belangt werden, eine etablierte Kategorie zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten. Nawalnys Rückkehr nach Russland erscheint vielen deshalb wie ein freiwilliger Gang zum Schafott.

Exil kam nicht infrage

Doch ein Exil in Berlin kam für ihn nicht infrage. Denn erstens ist Alexei Nawalny mindestens so sehr russischer Patriot wie der Kremlherr selbst. Und zweitens ist ein russischer Oppositioneller schnell vergessen, wenn er den Kampf um das Schicksal seiner Landsleute nicht auf russischem Boden austrägt. Deshalb flog er nach Hause und sitzt jetzt für 30 Tage im Gefängnis. Daraus können im russischen Gerichtssystem rasch vier Jahre werden. Die russische Staatsanwaltschaft, an kurzer Leine vom Kreml dirigiert, arbeitet bereits neue Anklagen wegen Betrugs und Verleumdung aus.

"Man glaubt ihm im Westen inzwischen mehr als Putin"

Alexei Nawalny ist für Putin zum gefährlichen Gegner geworden. Seit die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sich für seine Ausreise nach Berlin eingesetzt hat, ist Deutschland direkt in den Machtkampf hineingezogen worden. "Mit seiner Vergiftung, der Rettung in Deutschland und seiner Rückkehr nach Russland ist Nawalny ein internationaler Politiker geworden", sagt die russisch-amerikanische Russland-Expertin Nina Khrushcheva, "man glaubt ihm im Westen inzwischen mehr als Putin".

Die Europäische Union steht unter Zugzwang. Die Beziehungen zwischen Russland und der EU haben sich bereits seit Putins Annexion der Krim 2014 enorm verschlechtert. Die EU hat gegen die Russische Föderation Wirtschaftssanktionen verhängt, die alle sechs Monate verlängert werden. Im September 2020 hat der EU-Rat bereits sechs hochrangige Russen-Militärs, Geheimdienstler und Mitglieder der Präsidialverwaltung mit Sanktionen belegt, darunter den Chef des Inlandsgeheimdiensts Alexander Bortnikow. Dies geschah auf Basis des EU-Sanktionsregimes gegen Chemiewaffeneinsätze.

Seit der Vergiftung des ehemaligen FSB-Agenten Sergei Skripal und seiner Tochter Julija im englischen Salisbury im März 2018 - ebenfalls mit Nowitschok - gibt es in Europa aber noch ein anderes Instrument für Sanktionen. Das Vereinigte Königreich hat ein sogenanntes Magnitsky-Gesetz erlassen, um die in den Anschlag involvierten russischen Akteure direkt bestrafen zu können. Seither können einzelne Personen mit Sanktionen wie Einreiseverboten und dem Einfrieren ihrer Vermögen belegt werden.

"Wenn alle zusammenarbeiten und jene bestrafen, die direkt an Nawalnys Inhaftierung beteiligt sind", sagt der Erfinder der Magnitsky-Sanktionen Bill Browder im profil-Interview, "dann wird das Putin seine Grenze aufzeigen." Der russische Anwalt Sergei Magnitsky hatte für den US-britischen Geschäftsmann Browder gearbeitet und korrupte Beamte des russischen Innenministeriums des Steuerbetrugs bezichtigt, bevor er 2008 verhaftet wurde und 2009 in einem Moskauer Gefängnis zu Tode kam. In der "Matrosenruhe" übrigens. Dort, wo Nawalny derzeit sitzt.

Im Dezember hatten die EU-Staats-und Regierungschefs beschlossen, sich auch einen solchen Sanktionsrahmen für Menschenrechtsverletzungen zu geben. Jetzt stellt sich die Frage, wann der Magnitsky-Akt zum Einsatz kommt. Die baltischen Staaten wollen die neuen Menschenrechtssanktionen am liebsten sofort anwenden. Die meisten Mitgliedsländer verurteilten zwar die Verhaftung Nawalnys aufs Schärfste - Österreich sogar zwei Stunden vor Deutschland -, möchten aber erst einmal abwarten, wie der Machtkampf Nawalny gegen Putin weitergeht.

 

Nord Stream 2 als Exempel?

Nach der Vergiftung des Oppositionellen hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schon überlegt, dem Druck der USA nachzugeben und das gemeinsam mit Russland entwickelte Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 zu stoppen. Die deutschen Grünen machen seit der Verhaftung Alexei Nawalnys erneut Druck, das Projekt einzustellen, obwohl auf deutscher Seite nur noch 30 Kilometer der Rohre verlegt werden müssen. "Das kann man aber von der deutschen Regierung schwer verlangen. Sie hat bereits Milliarden investiert", sagt Magnitsky-Akt-Lobbyist Browder. "Deshalb bieten sich stattdessen die personenbezogenen Sanktionen an: Sie treffen ausschließlich jene, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, und nicht die ganze Zivilbevölkerung oder Regierungen, die ja wirtschaftlich zusammenarbeiten wollen."

Das EU-Parlament forderte diese Woche in einem Entschließungsantrag genau diese neuen Magnitsky-Sanktionen. Der Beschluss ist jedoch nicht bindend. "Unsere Forderungen sind dennoch ein wichtiger Impuls", sagt Sergey Lagodinksy. Der deutsche Grüne russisch-jüdischer Herkunft ist seit 2019 Abgeordneter im EU-Parlament: "Machen alle Parteien mit, erhöht sich der Druck auf Kommission und Rat." Die konservative Europäische Volkspartei, größte Fraktion im EU-Parlament, zieht jedenfalls mit.

Auch in Österreich rumort es, allerdings tun sich hier eher jene hervor, die nicht an der Macht sind und mit ihrem Einsatz keine lukrativen Energiedeals mit Russland gefährden. Immerhin ist auch der österreichische, börsennotierte Energiekonzern OMV an Nord Stream 2 beteiligt. "Wir müssen ein Exempel statuieren", sagt der NEOS-Abgeordnete Helmut Brandstätter. NEOS sind für neue personengebundene EU-Sanktionen nach der Magnitsky-Variante, denn: "Da wird nicht mehr das ganze Volk bestraft."

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg wird nun mit seinen Kollegen in Brüssel über das weitere Vorgehen beraten. Seit die ehemalige, von der FPÖ nominierte Außenministerin Karin Kneissl den russischen Präsidenten 2018 zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte und beim Tanz auch gleich vor ihm einen Knicks vollführte, sind die warmen Beziehungen der österreichischen Regierenden zum Kreml zwar nicht erkaltet, haben sich aber doch ein wenig der europäischen Durchschnittsdistanz angenähert. Im August wurde erstmals sogar ein russischer Agent aus Österreich ausgewiesen, der in Wirtschaftsspionage involviert war.

Alexej Nawalny wartet nicht auf Hilfe aus Europa. Trotz seiner Verhaftung schießen seine Mitarbeiter in sozialen Medien aus vollen Rohren gegen Putin. Ein Video heizt seit Dienstag die Volkswut gegen die Kremlkleptokratie an. Es zeigt, so behauptet Nawalny, den privaten Palast Putins am Schwarzen Meer von innen und außen, komplett mit Helipads und Hallenbad. Kosten: mehr als eine Milliarde Euro.

Das russische Roulette zwischen Alexej Nawalny und Wladimir Putin geht in die nächste Runde. Das Duell der beiden russischen Machtmenschen könnte für den inhaftierten Oppositionellen jederzeit tödlich enden. Nawalny aber legt die Waffe nicht nieder. Sein Putin-Video wurde bei Redaktionsschluss bereits von mehr als 58 Millionen Zusehern angeklickt.

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz