Dank Brexit und Covid entfernen sich die Schotten zunehmend von den Engländern. Warum die Schotten nicht beim Brexit mitmachen wollen, aber es am Ende vielleicht aber doch tun werden. Einblick in eine Entfremdung.
Hoch über der Stadt thront Edinburgh Castle auf seinem Felsen. In den Kriegen zwischen Schotten und Engländern wechselte das Schloss oft den Besitzer. Schottische Reiseführer erinnern gerne an 1314, da eroberten die Schotten unter der Führung von Thomas Randolph ihr Schloss von den Engländern zurück. Doch derzeit gibt es keine Führungen, das Schloss ist für Besucher geschlossen. Die pittoresken Straßen darunter sind menschenleer. Geschäfte und Schulen bleiben bis zum 1. Februar geschlossen. In Edinburgh herrscht tiefster Lockdown.
Auch die schottische Unabhängigkeitsbewegung ist deshalb erst einmal auf Zwangsurlaub. Am 1. Januar, als das Vereinigte Königreich aus dem EU-Binnenmarkt austrat, hatte Nicola Sturgeon noch getweetet: „Schottland kommt bald zurück! Europa, lass das Licht an!“ Doch schon am 4. Januar stellte die schottische Regierungschefin klar, dass die Schotten erst die Pandemie besiegen wollen.
Schottischer Nationalismus im Winterschlaf
Wenn der Frühling und die Impfungen das Coronavirus bis Mai zurückgedrängt haben, dann wird der schottische Nationalismus allerdings aus dem Covid-induzierten Winterschlaf erwachen. Und das nicht mit einem leisen Gähnen, sondern einem lauten Schrei. Am 6. Mai sollen die schottischen Parlamentswahlen abgehalten werden – als Briefwahl oder persönlich. Das hängt vom Verlauf der Pandemie ab. Bis dahin, so First Minister Nicola Sturgeon, sollen alle Schotten über 50 Jahre schon gegen Covid geimpft sein. Verschieben will die Chefin der schottischen Nationalistenpartei SNP die Wahlen nicht.
Kein Wunder, denn die Coronapandemie und der Brexit haben den schottischen Nationalismus gestärkt. Die Schotten könnten doch noch ihren eigenen Staat bekommen. Nach der jüngsten Umfrage von „What Scotland thinks“ gibt es seit 2019 eine Mehrheit, seit Ende 2020 zum ersten Mal eine richtig große Mehrheit von 59 Prozent für die schottische Unabhängigkeit von England.
Schottland und die EU
2014 hatten die Schotten zum ersten Mal darüber abgestimmt, ob sie in der Union mit England im Vereinigten Königreich bleiben wollten. Damals aber stimmten 55 Prozent für die Union mit England. Auch deshalb, weil die britische Regierung versprochen hatte, dass die proeuropäischen Schotten nur dann sicher sein könnten, in der Europäischen Union zu bleiben. Ob die EU eine kleine sezessionistische Nation als eigenes Mitglied aufnehmen würde? Das war stets wegen anderer sezessionistischer Bestrebungen in der EU – wie den Basken in Spanien – fraglich gewesen.
„Das hat sich jetzt grundlegend geändert“, sagt SNP-Politiker Angus Robertson: „Wir können nur dann EU-Mitglied sein, wenn wir aus dem Vereinigten Königreich austreten und unabhängig werden.“ Robertson, dessen Mutter aus Berlin stammte, ist überzeugter Proeuropäer. Er kandidiert für die schottische Nationalistenpartei bei den schottischen Parlamentswahlen im Mai 2021 für den Wahlkreis Edinburgh Central. Bis 2017 war er Fraktionsvorsitzender der SNP im britischen Unterhaus in Westminster.
Die cleveren schottischen Nationalisten
Auch Angus Robertson sitzt derzeit im Lockdown in der schottischen Hauptstadt fest. „Den Wahlkampf können wir derzeit vergessen“, seufzt er in die Videokamera in seinem Home Office, „Hausbesuche sind nicht möglich. Und Wahlkampfmaterial können wir auch nicht verteilen.“
Dennoch ist der Schotte guter Dinge. Die SNP führt in allen Umfragen haushoch mit bis zu 55 Prozent. Die schottischen Konservativen und die schottische Labour-Partei sind nur für wenige hier im Norden der britischen Insel attraktiv.
Denn die schottischen Nationalisten haben sich einen erfolgreichen Politcocktail gemixt: Sie sind für die Unabhängigkeit ihrer kleinen Nation von 5,5 Millionen Menschen, aber sie sind auch proeuropäisch und sozialdemokratisch. Je mehr sich die britische Regierung unter dem Einfluss von Brexitfans wie Boris Johnson radikalisiert, umso weiter entfernt sich Schottland von England. Die Logik der Unabhängigkeit hat sich durch den Brexit verstärkt. Schließlich haben 62 Prozent der Schotten 2016 im EU-Referendum dafür gestimmt, in der EU zu bleiben.
Corona und das Vereinigte Königreich
Doch auch die Corona-Pandemie hat die Kluft zwischen Schottland und England verdeutlicht. „Covid hat uns emotional noch mehr von England getrennt“, sagt Anna McIntyre-Wressnig. Die österreichische Meeresbiologin ist vor einigen Jahren mit ihrer Familie aus beruflichen Gründen nach Glasgow gezogen. „Man konnte hier in Schottland nicht verstehen, was dort in der Hauptstadt London für Entscheidungen getroffen wurden.“
Boris Johnson hat mit einem unschlüssigen Zickzack-Kurs bei der Bekämpfung der Covid-Pandemie erst zu spät, dann nicht strikt genug reagiert. England wurde in der ersten Pandemiewelle im Frühling zum traurigen Listenführer bei den Covid-Todesfällen in der EU. Da das Gesundheitswesen im Vereinigten Königreich in die Verantwortung der vier Nationen fällt, konnte Nicola Sturgeon für ihre Schotten von Anfang an vom englischen Kurs abweichen und einen vorsichtigeren Weg einschlagen.
Alter Streit
Es ist seit Jahrhunderten nicht einfach für Engländer wie für Schotten, die Balance in den heiklen schottisch-englischen Beziehungen zu halten. Man war sich oft spinnefeind und doch eng verbunden. Seit 1707 gibt es ein gemeinsames britisches Parlament. Elizabeth II. ist die Queen des Vereinten Königreichs – ihr Vater George VI. war Engländer, ihre Mutter Elizabeth Tochter schottischer Aristokraten.
Die Schotten fühlten sich nie richtig gleichberechtigt – England mit 55 Millionen Einwohnern dominiert die kleineren Nationen der Schotten, Waliser und Nordiren allein von den Bevölkerungszahlen her. Seit dem Scotland Act 1998 gibt es ein eigenes Parlament in Holyrood in Edinburgh – ein Versuch, vor allem die schottischen Autonomiebestrebungen zu befriedigen.
Der Versuch ist fehlgeschlagen. Für Boris Johnson wird es nicht einfach werden, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für die Schotten zu blockieren. An sich kann der britische Premier der schottischen Regierungschefin die Abhaltung eines Plebiszits verbieten. Doch sollten die Schotten mit überwältigender Mehrheit im Mai für die Nationalisten stimmen, steigt der Druck für ihr demokratisches Recht, ihr Wahlprogramm umzusetzen – die Sezession von England.
Ob die Schotten wirklich ernst machen...
Der britische Regierungschef könnte natürlich auch das Ergebnis eines Plebiszits ignorieren. Eine Volksabstimmung ist rechtlich für ihn nicht bindend. Genauso war es allerdings auch mit dem Brexit-Referendum 2016. Niemand in der britischen Politszene wagte es, das Ergebnis nicht umzusetzen.
Allein die Beliebtheit von Nicola Sturgeon, die ihre Schotten seit 2014 anführt, könnte in diesen unsicheren Zeiten für viele den Ausschlag geben. Nach der Brexit-Entscheidung überlegte sich die österreichisch-australische Familie McIntyre-Wressnig aus Glasgow wegzuziehen. „Doch Nicola Sturgeon hat immer gesagt, wie wichtig ihr Europa und die EU-Bürger sind. Das hat uns bestärkt, hier zu bleiben“, sagt Anna McIntyre-Wressnig: „Sonst wären wir wohl nicht geblieben.“ Sie zweifelt allerdings daran, dass die Schotten ernst machen: „Der Brexit hat viele schon so verunsichert, die Auflösung einer weiteren Union“ – jene mit den Engländern – „könnte den Leuten einfach zu viel Angst machen“.
Ein bisschen Unterhaltung
Angesichts der großen Schicksalsfragen freuten sich die Schotten kurzfristig über ein wenig Ablenkung. Die schottische Sunday Post berichtete, dass ein US-Militärflugzeug für den 19. Januar im Glasgower Prestwick-Flughafen angemeldet worden sei. US-Präsident Donald Trump besitzt einen Golfplatz in der Nähe. Sofort wurde spekuliert: Versuche Trump etwa, die Inauguration seines Nachfolgers Joe Biden zu verpassen, um stattdessen in Schottland eine Runde Golf zu spielen? „Wir lassen derzeit niemanden landen, der nicht einen wichtigen Grund dafür vorweisen kann“, richtete Nicola Sturgeon dem scheidenden US-Präsidenten gleich mal scharf über die Medien aus. Statt in Schottland einzureisen, sollte er lieber erst eimal „aus dem Weißen Haus ausziehen“.
Sollte sich Donald Trump trotzdem Glasgow annähern, wäre in Zeiten von Coronapandemie und Brexitdepression in Schottland zumindest kurzfristig für Unterhaltung gesorgt.