Der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt ist selbst den einst brexitbegeisterten Boulevardblättern im Vereinigten Königreich keine Titelseite mehr wert. Nur Regierungschef Boris Johnson feiert noch optimistisch den Aufbruch in ein neues Zeitalter.
Der Big Ben Brexit Bang blieb aus. Der Glockenturm des Westminster-Palastes durfte zwar um 23 Uhr am 31. Dezember – Mitternacht in Brüssel und Berlin - läuten, um den endgültigen Brexit zu verkünden. Doch das seit 2017 eingerüstete Wahrzeichen Londons blieb dabei weitgehend ungehört. Neujahrsfeiern wurden in London wie überall in Europa wegen der grassierenden Corona-Pandemie abgesagt. Auch Brexitfans müssen zu Hause bleiben.
Der Neujahrstag ist ein Feiertag, dann folgt ein Wochenende. Erst am 4. Januar werden die Briten im neuen Zeitalter aufwachen. Ihre Insel ist nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes. Lastwagenfahrer auf dem Weg in die EU und aus der EU brauchen neue Frachtdokumente, im Hafen von Dover sind Staus zu erwarten. Um diese gering zu halten, habe viele Firmen ihre Frachtfahrer erst einmal ein paar Tage nach Hause geschickt. Das Luxuskaufhaus Harrods hat schon vor Wochen Lieferungen in die EU eingestellt, um den Problemen des neuen Zeitalters aus dem Weg zu gehen.
Der Brexit ist kaum noch Thema
Der Brexit hat längst schon Platz Eins auf den Titelseiten an Covid-19 abgetreten. Am 31. Dezember starben knapp tausend Menschen im Vereinigten Königreich an dem Virus. Die Spitäler sind wie im April überlastet, im St-Thomas-Spital, in dem Boris Johnson im April auf der Intensivstation behandelt wurde, warten Ambulanzen bei der Notaufnahme stundenlang darauf, dass Patienten aufgenommen werden können.
Auch der britische Regierungschef lässt die Sektkorken deshalb allein zu Hause im Kreise der Kleinfamilie knallen. Johnson war der einzige, der sich zur Jahreswende noch in Optimismus versuchte. Anders als die meisten seiner Landsleute hatte er auch etwas zu feiern: Unter hohem Zeitdruck hat er doch noch ein Handelsabkommen mit der EU abschließen können. In seiner Weihnachtsansprache hielt er fröhlich einen zerfledderten Papierziegel in die Kamera, den er den Briten unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte.
„Sie haben gesagt, man kann mit der EU keinen freien Handel treiben, wenn man sich nicht an die EU-Regeln hält“, sagte er im Interview mit der BBC, „aber genau das machen wir jetzt“. Boris Johnson findet, er kann seinen Kuchen behalten und ihn gleichzeitig auch essen. The Sun nennt den Deal, den das britische Parament in der Nacht zum 31.12. mit großer Mehrheit ratifizierte, „den siegreichen Schwammkuchen“.
Der wirkliche Brexit
Damit beginnt für die EU und für das Vereinigte Königreich eine neue Phase der Beziehungen. Die 27 EU-Mitglieder feierten unter der Führung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Jahresende noch ein Investitionsabkommen mit China. Die Briten hoffen erst einmal darauf, dass sich der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion nicht allzu negativ auswirkt. Der offizielle Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erfolgte ja schon am 1. Februar 2020, der faktische und folgenreiche Brexit passiert erst jetzt.
Ab dem 1. Januar fallen die Vorteile des Binnenmarktes für beide Seiten weg. Dank des Handelsvertrages fallen keine Zölle und Quoten für Güter an, doch die Frachter brauchen mehr Dokumente, in den Häfen muss mehr kontrolliert werden. Da bis vor einer Woche nicht klar war, ob es überhaupt ein Abkommen geben würde, sind ein großer Teil der britischen Firmen immer noch nicht auf den Wechsel vorbereitet.
Die schottische Frage ist offen
Die Anpassung wird vor allem zwischen Großbritannien und Nordirland nicht einfach werden. Um eine neue Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland im Süden zu vermeiden, bleibt Nordirland auch weiterhin bei EU-Binnenmarktregeln. Die neue EU-Außengrenze zieht sich jetzt de facto durch das irische Meer zwischen Nordirland und Großbritannien. Da stehen mehr Formulare an. Importeure und Exporteure müssen außerdem klarstellen, ob ein Produkt für Nordirland oder den EU-Markt bestimmt ist. Umgekehrt natürlich auch. Wirklich schwierig aber wird es auf lange Sicht, wenn das Vereinigte Königreich von EU-Normen bei Lebensmitteln und anderen Gütern abweicht. Dann könnte die EU Strafzölle einführen, die an den Grenzen eingezogen werden müssen.
Nicht nur die Grenze zu Nordirland ist vom Brexit betroffen. Eine weitere innerbritische Grenze ist durch den EU-Austritt auf lange Sicht eine mögliche Achillesferse geworden. Die Abgeordneten der schottischen Nationalisten haben am 30. Dezember im Unterhaus gegen den Handelsvertrag mit der EU gestimmt. Sie wollten gar keinen Brexit, auch diesen nicht. Im kommenden Mai wird sich bei den schottischen Wahlen zeigen, ob die Schotten ihren Weg aus dem Vereinigten Königreich weiter verfolgen wollen. Gewinnt die nationalistische Regierungschefin Nicola Sturgeon mit großer Mehrheit, steigt der Druck für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Tritt Schottland aus der UK aus und in die EU wieder ein, dann verläuft irgendwann eine EU-Außengrenze direkt durch die britische Insel zwischen England und Schottland.
Der Zuzug aus der EU wird drastisch sinken
Das ist aber erst einmal Dudelsackmusik. Ganz konkret büßen alle Briten jetzt erst einmal die Personenfreizügigkeit in der EU ein – sie können nicht länger als neunzig Tage in ihren Zweithäusern am Kontinent bleiben. Ab jetzt gelten Drittstaatregeln für Touristen und wer einen Job am Kontinent oder auf der Insel antritt, braucht dafür ein Arbeitsvisum. Britische Telefonfirmen dürfen wieder Roaming-Gebühren in der EU einführen.
Nicht viel dürfte sich für die eine Million Briten ändern, die seit Jahren in EU-Staaten lebt. Ungefähr vier Millionen EU-Staaten residieren im Vereinigten Königreich. Ihre Rechte sind im Scheidungsvertrag festgeschrieben worden. Sie sollen wie bisher Zugang zu lokalen Gesundheits- und Pensionssystemen haben. Ab dem 1. Januar 2021 aber wird der Zuzug von EU-Bürgern nach Großbritannien drastisch sinken. Schon jetzt fehlen in britischen Spitälern die gut ausgebildeten Ärzte und Pfleger aus EU-Staaten. Zehntausende Stellen sind frei, weil seit dem EU-Referendum 2016 weniger EU-Bürger nach Großbritannien gezogen sind. In Zeiten der Corona-Pandemie ist dies besonders dramatisch.
Studienkosten steigen
Besonders betroffen sind künftig auch britische Studierende, die nicht mehr wie bisher am Erasmusprogramm teilnehmen dürfen. Die EU erlaubt zwar auch Nicht-Mitgliedern, an diesem Studentenaustauschprogramm teilzunehmen, die britische Regierung aber verzichtete darauf. Alles, was mit der EU zu tun hat, ist in Johnsons Kabinett derzeit schlecht angeschrieben. Man wolle, hieß es, lieber ein eigenes Programm für Studierende aus aller Welt entwickeln, das besser zu „Global Britain“ passe.
Für junge Leute aus der EU wird es grundsätzlich sehr viel teurer, an britischen Universitäten zu studieren. Bisher zahlte man die gleichen Studiengebühren wie die Briten. Jetzt steigt der Preis für die ohnehin teuren englischen Eliteunis. Statt 10.000 Euro pro Semester wird ein Bachelor-Studium jetzt mindestens das Doppelte kosten, Masterstudien auch das Drei- oder Vierfache. Der Zugang zu Studentenkrediten wird überhaupt nicht mehr gewährt.
Was passiert mit der City of London?
Die großen Probleme, die Johnsons Weihnachtsabkommen für seine Briten aber bringen wird, die sieht man auch Anfang des Jahres wohl noch nicht. Der wichtigste Sektor der britischen Wirtschaft wurde in dem Freihandelsvertrag zwischen EU und Vereinigtem Königreich nicht behandelt: die Finanzdienstleistungen.
Die City of London ist neben New York der wichtigste Finanzstandort der Welt. Bisher profitierte London davon, dass die City Zugang zur Welt und zur EU bot. Für alle Finanzdienstleister wie Banken und Versicherungen müssen jetzt erst in den kommenden Monaten und Jahren neue Regeln ausgearbeitet werden. „Wir haben für die Fischer gekämpft, deren Arbeit 0,1 Prozent unserer Wirtschaft ausmachen“, schreibt Jonathan Powell, der eins Tony Blairs Büro leitete, „statt für die Finanzdienstleistungen, die 80 Prozent unserer Wirtschaft ausmachen“. Powell stellt in seiner Analyse für Politico fest: „In allen wichtigen wirtschaftlichen Fragen, hat die EU bekommen, was sie wollte.“
Schrumpfende Wirtschaft
Boris Johnson ist auf diesem Ohr – dem für die ökonomischen Folgen seines Brexit – taub. Ihm und seinen Brexiteers ging es am Ende nur noch um das Prinzip britischer Souveräntität. Auch in seinem Neujahrinterview mit der BBC konnte der Premierminister nicht sagen, wie der Finanzplatz London damit umgehen wird, dass er das sogenannte Passportrecht in die EU verloren hat. „Die City wird mächtig gedeihen“, wiederholte er seinen oft gebrauchten Slogan. Gründe für seinen Optimismus nannte er nicht.
Aufgrund all dieser Brexit-Neuerungen errechneten regierungsnahe Stellen wie das „Office for Budget Responsibility“, dass die britische Wirtschaft in den kommenden Jahren um vier Prozent schrumpfen wird – das sind rund 100 Milliarden Euro pro Jahr. Die Coronapandemie schrumpft die britische Wirtschaft nach den Berechnungen der Statistiker und Ökonomen dagegen „nur“ um drei Prozent – wobei diese Zahlen vor dem Auftreten der neuen englischen Virusvariante herausgegeben wurden.
Johnsons Vater will Franzose werden
55.800 Neuinfektionen wurden am letzten Jahrestag 2020 im ganzen Land gemessen. 964 Menschen starben innerhalb von 24 Stunden an Covid-19. Den vier Nationen des Vereinigten Königreichs droht Anfang des Jahres ein fast flächendeckender Lockdown, der lange Winterwochen dauern dürfte.
Dem Coronavirus und dem Brexit wird eine schwere Wirtschaftsrezession folgen. Manchen wurde daher eher mulmig, als Boris Johnson nach der Ratifizierung des EU-Handelsabkommens durch die Queen freudig ausrief: „Das Schicksal dieses großen Landes liegt nun fest in unseren Händen.“ Sein Vater Stanley verkündete daraufhin, er wolle jetzt erst einmal um die französische Staatsbürgerschaft ersuchen.