Der britische Labour-Chef Keir Starmer hat größte Schwierigkeiten, seine Partei zu einen. Im Interview mit Cicero spricht Labour-MP Margreet Hodge über die Spaltpilze Brexit und Corona – und Starmers Vorgänger Jeremy Corbyn, der ihm mit dem Antisemitismus-Skandal eine offene Wunde hinterlassen hat, die nicht heilen will.
„Da schreibt einer: ‚Zionistische Schlampe!‘“, sagt Margaret Hodge indigniert, „du sollst wissen, wie sehr wir dich verabscheuen“. Dann zitiert die jüdische Labour-Abgeordnete weiter mit monotoner Stimme aus einer langen Liste von antisemitischen Hassmails, die in den vergangenen Wochen in ihrer Inbox gelandet sind: „Das Hakenkreuz ist das richtige Symbol für Israel, es ist ein faschistischer Staat.“
Dass sie Post für Israel bekommt, findet die Britin, deren Familie aus Deutschland und Österreich stammt, fast ebenso daneben wie den Inhalt. Die 76-jährige Abgeordnete, die für ihre Verdienste für das Vereinigte Königreich von Königin Elizabeth II. zu „Dame Margaret“ ernannt wurde, ist antisemitische Angriffe seit langen Jahren gewohnt. Im Gespräch mit Cicero bekennt sie: „Allerdings kamen sie früher nur von der extremen Rechten, der ‚British National Party‘. Heute erhalte ich solche E-Mails oft aus den eigenen Reihen von der harten Linken.“
Corbyn war lange untätig
Der Antisemitismus-Streit in der britischen Labour-Party kommt nicht zur Ruhe. Der neue Chef der traditionellen Arbeitspartei, Keir Starmer, wollte nach seiner Wahl im April 2020 einen Schlussstrich ziehen und den „Antisemitismus in der Labour-Party ausmerzen“. Unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn hatte eine unerhörte Welle von antisemitischen Vorfällen einige jüdische Abgeordnete sogar dazu veranlasst, aus der Partei auszutreten. „In der harten Linken hassen sie Kapitalismus und Imperialismus, für sie symbolisiert Israel beides. Dieser Antisemitismus, der am Rande des linken Lagers seit langem existiert, ist durch Corbyn ins Zentrum gerückt“, sagt Hodge. Corbyn hatte dem Treiben lange untätig zugesehen und nur halbherzig verkündet, er habe immer schon gegen jegliche Form des Rassismus gekämpft.
Starmer muss jetzt die Folgen dieses bitteren, parteiinternen Konfliktes ausbaden. Nach einem internen Bericht über den Antisemitismus in der Labour-Party Ende Oktober wies Corbyn ihn als „übertrieben“ zurück und wurde daraufhin von Starmer als Parteimitglied suspendiert. Dann wurde Corbyn über ein Gremium, in dem noch seine Gefolgsleute sitzen, über Nacht wieder in die Partei geholt. Starmer aber weigert sich, seinen Vorgänger, der als Abgeordneter seines Londoner Bezirkes Islington Nord nach wie vor im britischen Unterhaus sitzt, wieder in die Labour-Fraktion aufzunehmen.
Die Außenwirkung ist verheerend
Vor einem Jahr trat Jeremy Corbyn noch für seine Labour-Party als Premierministerkandidat an. Und jetzt soll der 71-jährige Altlinke als wilder Abgeordneter seine parlamentarische Karriere zu Ende bringen? Die Außenwirkung ist verheerend. „Corbyn müsste sich nur einmal ohne Wenn und Aber entschuldigen, dann wäre der Sache sehr geholfen“, meint Margaret Hodge.
Ihr ist bewusst, wie sehr der Streit der Partei schadet. Gerade jetzt, wo Boris Johnsons mangelndes Management in Sachen Covid und Brexit viel Angriffsfläche böte. „Johnson schreckt nicht einmal davor zurück, die Grundpfeiler unserer Demokratie wie Parlament, Richter und die BBC zu unterminieren.“
Labour ist auch beim Brexit immer noch gespalten
Doch Labour steckt in der Zwickmühle. Statt sich erste Reihe fußfrei ansehen zu können, wie der konservative Premierminister Boris Johnson eher schlecht als recht gegen die weltweit grassierenden Corona-Pandemie kämpft, während der von ihm selbst gebaute Brexit-Schlamassel immer noch nicht geklärt ist, versinkt Oppositionsführer Keir Starmer immer tiefer in parteiinternen Querelen. Wie die Konservativen sind auch die Progressiven in Großbritannien in der Brexitfrage immer noch tief gespalten.
Diese Woche sollte es zu dem lange erwarteten Abschluss eines schlanken Freihandelsabkommen zwischen Briten und der EU kommen – bisher wird immer noch unter Hochdruck verhandelt. Die Zeit drängt. Am 31. Dezember 2020 läuft die Übergangsphase aus, danach endet die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion. Ohne Freihandelsabkommen drohen Zölle und Chaos an den Grenzen.
Starmer will mit Johnson stimmen
Falls es zu einem Abkommen kommt, muss es noch im britischen Parlament abgestimmt werden. Soll die Opposition mit der Regierung stimmen? Darüber sind die Meinungen geteilt. Keir Starmer möchte mit Boris Johnson stimmen, weil er jene Labour-Wähler im Norden Englands zurückholen möchte, die den Brexit wollten und deshalb 2019 Brexitanführer Johnson gewählt haben.
„Das sollten wir auf keinen Fall machen“, meint Margaret Hodge dagegen. Sie vertritt den Wahlkreis Barking, in dem zwei Drittel der Wähler 2016 für den Brexit gestimmt haben. Sie selbst aber ist immer für den Verbleib in der EU eingetreten. „Dieses Freihandelsabkommen greift zu kurz, es umfasst nicht einmal die Finanzdienste, die für die britische Wirtschaft besonders wichtig sind.“ Hodge will bei der Ratifizierung des Handelsabkommens, sollte es noch vor Weihnachten zustande kommen, nicht mit dem Parteichef mitgehen: „Wir sollten uns lieber enthalten. Dann setzen wir das richtige Zeichen: Wir unterstützen Johnsons schlechtes Abkommen nicht, wir blockieren es aber auch nicht.“
Tiefste Wirtschaftsrezession in 300 Jahren droht
Denn wenn das Freihandelsabkommen nicht ratifiziert werden kann, dann fällt Großbritannien ohne Deal aus dem Binnenmarkt. Beim Vergleich von dreizehn Studien zur britischen Wirtschaftsentwicklung unter den verschiedenen Szenarien ergibt sich ein Durchschnittswert von 6,1 Prozent Einbuße beim Wachstum, wenn Großbritannien ohne ein Abkommen aus dem EU-Binnenmarkt ausscheidet. Ein schlankes Freihandelsabkommen ließe die britische Wirtschaft „nur“ um vier Prozent schrumpfen.
Im Vergleich ist der Brexit immer noch viel teurer als die Corona-Pandemie, die nach derzeitigen Berechnungen die britische Wirtschaft erst einmal um drei Prozent schrumpfen lässt. Großbritannien steuert im Winter 2020 auf die tiefste Wirtschaftsrezession in 300 Jahren zu. „Wenn die Impfstoffe halten, was sie versprechen, dann wird die Wirtschaft schneller wieder anspringen“, hofft Margaret Hodge. Da die Brexitverhandlungen sich schon seit vier Jahren hinziehen und nur noch an populistisch überhöhten Lappalien wie der Fischereiquote hängen, hält sich das Interesse der Briten inzwischen sehr in Grenzen. Corona hat den Brexit aus den Schlagzeilen verdrängt.
Auch bei Corona kann Starmer nicht punkten
Auch beim Thema Corona aber kann Oppositionsführer Keir Starmer im Moment nicht punkten. Boris Johnson hat zwar wegen seiner chaotischen Coronapolitik an Popularität verloren, seine Tories liegen in den meisten Umfragen fünf Prozentpunkte hinter der Labour-Party. Doch der zweite Lockdown hat im Vereinigten Königreich zu fast den gleichen Bruchlinien wie der Brexit geführt. Im armen Norden Englands ist die Ansteckungsrate am höchsten, die Maßnahmen sind am radikalsten und die ökonomischen Folgen für die Bevölkerung daher auch am härtesten. Wie Boris Johnson muss Gegenspieler Keir Starmer nicht nur die gesundheitliche Logik der Pandemiebekämpfung bedenken, sondern – wie alle Regierungen weltweit – die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen.
Am Dienstagnachmittag wird im britischen Unterhaus über den neuen Stufenplan zur Corona-Bekämpfung gestritten und abgestimmt. Boris Johnson droht eine Rebellion aus den eigenen Reihen, in der einige Dutzend Abgeordnete gegen die strikten Maßnahmen wie die verlängerte Schließung von Pubs in der höchsten Ansteckungszone stimmen wollen. Die schottischen Nationalisten werden gar nicht abstimmen, weil es sich nur um Maßnahmen für England handelt.
Die Qual der Wahl
Oppositionsführer Keir Starmer hat die Qual der Wahl: Stimmt er gegen Johnson, um potenziellen Wählern im Norden zu gefallen, gehen die Maßnahmen eventuell nicht durch, die notwendig sind, um die Ansteckungsrate zu senken. Stimmt er für Johnsons Maßnahmen, ist er als Oppositionsführer eine Nullnummer.
Margaret Hodge kann ihre Stimme nicht selbst abgeben, weil sie mit ihren 76 Jahren wie andere betagtere Abgeordneten angewiesen wurde, zu ihrem eigenen Schutz vor Ansteckung mit dem Coronavirus zu Hause zu bleiben: „Meine Stimme wird aber sehr wohl zählen, einer der anwesenden Labour-Abgeordneten stimmt für mich mit.“ Ob das etwas nutzt? Der vorsichtige Keir Starmer hat seine Labour-Abgeordneten angewiesen, sich der Stimme zu enthalten.