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Brexit macht's möglich: Die Briten waren schneller

https://www.cicero.de/aussenpolitik/corona-impfstoff-zulassung-eu-grossbritannien-boris-johnson


Die Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, wurde von vielen als Fehler eingeordnet. Doch zumindest bei der Zulassung des Impfstoffes der Firmen Pfizer und Biontech konnte das Vereinigte Königreich schneller agieren als die USA und die EU.

Cicero Online am 2.12.2020

Am Mittwoch überraschte Großbritannien mit der Nachricht, dass das Vereinigte Königreich als erstes Land der Welt den Corona-Impfstoff des Mainzer Pharmaunternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer zugelassen hat. Biontech schickte am Mittwoch die ersten Impfpakete auf den Weg. Adresse: Großbritannien. Nicht einmal die Staaten, in denen der Impfstoff entwickelt wurde, waren schneller als die Briten. Und das hat seine Gründe.

Boris Johnson hat einen Überraschungscoup gelandet: „Es ist unfraglich eine sehr, sehr gute Nachricht!“, freute sich der Regierungschef Mittwochmittag bei den Prime Minister’s Questions im Unterhaus. Johnsons Gesundheitsminister hatte schon in der Morgenrunde der Fernseh- und Radiointerviews klargestellt: „Es war so ein schreckliches Jahr, aber die Hilfe ist unterwegs!“, strahlte Matt Hancock in jede Fernsehkamera, die sich ihm bot: „Ich bin sehr stolz, dass das Vereinigte Königreich als erstes Land der Welt einen klinisch geprüften Impfstoff bereit hat.“

Gute Nachrichten benötigt

Mit der Zulassung des Impfstoffes gegen die Pandemie bringt sich Boris Johnson wieder als Retter der vier britischen Nationen in Position. Optimismus und Tatkraft sind schließlich seine beiden Markenzeichen. Nach seinem ersten Regierungsjahr war es ihm zunehmend schwergefallen, beides auszustrahlen. Den Briten steht in diesem Winter wegen Corona und Brexit die größte Wirtschaftsrezession seit 300 Jahren bevor.

Am Dienstagabend noch saß der britische Premierminister zusammengesunken und grau im Gesicht auf der grünen Bank im Unterhaus, dem britischen Parlament, nachdem ihm 55 der eigenen Abgeordneten die Gefolgschaft verweigert und gegen seine harschen Maßnahmen zur Eindämmung der grassierenden Coronapandemie gestimmt hatten. Nur weil sich die Opposition der Stimmen enthalten hatte, konnte Johnson seinen neuen Stufenplan durchsetzen, der den Großteil Englands vor eine harsche Realität stellt: Die Pubs bleiben erst einmal fast überall geschlossen.

Mit den Impfungen soll sofort begonnen werden

Seit der 55-jährige Regierungschef im April selbst an Covid erkrankt ist und nur mit einem Aufenthalt auf der Intensivstation gerettet werden konnte, wirkt Johnson von der Krankheit physisch gezeichnet. Seit Dienstag ist er es auch politisch. Lange her scheint es, dass er die Tories im Dezember 2019 zum überwältigenden Wahlsieg führen konnte. Die parteiinterne Revolte der libertär-antiautoritären Mannen in der „Covid Research Group“ unter der Führung von Steve Baker hat sich aus den Reihen der „European Research Group“ formiert, in der sich einst die härtesten Brexiters zusammengefunden hatten.

Umso größer wird nun die Zulassung des Impfstoffes gefeiert. 800.000 Impfdosen sollen nächste Woche bereits bereitstehen. Insgesamt 40 Millionen hat die britische Regierung bei Pfizer bestellt. Mit den Impfungen soll dann sofort begonnen werden. An sich sollten die Ältesten als erste geimpft werden, sie sind die am meisten gefährdete Gruppe. Ebenfalls in Kategorie Eins ist das Pflegepersonal in Seniorenheimen. Danach kommen Ärztinnen und Pfleger in den öffentlichen Spitälern zum Zug. Erst in den kommenden Monaten werden dann auch jüngere Generationen geimpft.

Der Pfizer-Biontech-Impfstoff muss allerdings bei minus 80 Grad gelagert werden. Viele betagte Bewohner der Pflegeheime können nicht zu den speziellen Tiefkühlschränken gebracht werden, deshalb wird angenommen, dass bald das Krankenpersonal in den Krankenhäusern des National Health Service (NHS) zum Zug kommen wird.

Mehr als 75.000 Todesopfer

Am liebsten wäre es dem britischen Regierungschef wohl gewesen, wenn der im englischen Oxford gemeinsam mit dem Pharmakonzern AstraZeneca entwickelte Corona-Impfstoff als erstes Produkt in Großbritannien zugelassen worden wäre. Noch aber steckt der englische Impfstoff in der Testphase.

Hat Boris Johnson sich mit der Zulassung des Impfstoffes so beeilt, damit er sein bisher eher chaotisches Coronamanagement vergessen machen kann? In Großbritannien sind nach Berechnungen der Regierung bereits 59.000 Coronavirus-Opfer zu verzeichnen. 601 Briten starben allein am 1. Dezember. In dieser Statistik aber werden nur Menschen gezählt, die innerhalb von 28 Tagen an SARS-CoV-2 gestorben sind. Zählt man alle Todesfälle, bei denen positive Covid-19-Befunde vorliegen, dann sind im Vereinigten Königreich nach Recherchen des Guardian und der Financial Times bereits mehr als 75.000 Menschen an der Pandemie gestorben.

Genehmigung eine populistische Entscheidung?

Angesichts dieser erschreckenden Zahlen drängt sich der Verdacht auf, der Regierungschef habe die Genehmigung des Impfstoffes auf die Prioritätenliste ganz nach oben gesetzt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Boris Johnsons Politik auf populistischen Effekt ausgerichtet ist.

Die Geschäftsführerin der britischen Aufsichtsbehörde für Medikamente (MHRA) bemühte sich Mittwochfrüh allerdings redlich, diesen Eindruck zu zerstreuen: „Die Empfehlung der MHRA folgte einer extrem sorgfältigen und wissenschaftlich strengen Untersuchung“, referierte June Raine in einem Briefing aus dem Regierungssitz in Downing Street. Den britischen MHRA-Experten zufolge gibt es bei dem neuen Impfstoff nur milde Nebenerscheinungen. Die Geimpften bekommen zwei Dosen. Zwölf Tage nach der ersten Impfung entsteht ein gewisser Schutz, aber erst sieben Tage nach der weiten Dosis ist Immunität garantiert. Die Impfung wird nicht verpflichtend durchgeführt.

EU-Behörde EMA meldet Zweifel an

Für Boris Johnson hat die schnelle Zulassung des Impfstoffes noch einen weiteren Placebo-Effekt: Großbritannien hat rascher gehandelt als die EU. Die EU-Behörde EMA ist für die Zulassung von Medikamenten zuständig. Sie arbeitet noch an den Befunden, ob Pfizer-Biontech auf dem europäischen Markt zugelassen werden darf. EMA meldete am Mittwoch prompt Zweifel an, ob die allzu rasche Zulassung der Briten eine gute Idee sei.

Da das Vereinigte Königreich die EU am 31. Januar 2020 offiziell verlassen hat, fühlen sich Queen und Untertanen nicht mehr an die EU-Regulierung gebunden. „Wegen des Brexit können wir schneller handeln“, meinte Gesundheitsminister Matt Hancock gegenüber Times Radio.

Das Vertrauen der EU in die Briten nach dem Brexit wird dieses Vorgehen nicht stärken. Gerade in diesen Tagen sollen die Verhandlungen zwischen EU und Großbritannien über ein Freihandelsabkommen zu Ende gebracht werden, damit die Briten nicht ohne Abkommen aus dem EU-Binnenmarkt kippen. Bis 31. Dezember 2020 gilt noch die Übergangsphase. In den Verhandlungen geht es unter anderem auch darum, wie weit sich die Briten von EU-Standards entfernen. Sollte es kein Abkommen geben, könnte es zu Verzögerungen bei Güterlieferungen kommen. Auch bei Medikamenten und Impfstoffen.

Nicht jeder ist überzeugt

Am Mittwoch aber konzentrierte sich das öffentliche Interesse erst einmal auf eine Frage: Ist der Impfstoff nach dieser schnellen Entscheidung überhaupt sicher genug? Wegen der rasanten Entwicklung des Impfstoffes sind Zweifel weit verbreitet. Gerade unter jungen Briten herrscht Skepsis, ob sie sich als Testpersonen melden sollen.

Der Krankheitsverlauf bei jungen Menschen verläuft im Allgemeinen eher milde bis asymptomatisch. Muss man sich impfen lassen? Der 28-jährige Freddie Whitaker möchte lieber abwarten: „Ich will nicht der erste sein, der diesen Impfstoff testet.“ Der Grafikdesigner hat bereits zwei harte Lockdowns in der nordenglischen Stadt Birmingham gesund überstanden. Statt sich einem langfristig noch nicht ausreichend getesteten Impfstoff auszuliefern, bleibt er lieber weiter vorsichtig zu Hause.

Wird es einen Corona-Impfpass geben?

Im britischen Unterhaus wird bereits darüber diskutiert, ob ein Corona-Impfpass ausgestellt werden soll, mit dem der Zutritt zu Restaurants erlaubt werden könnte. Der neue britische Impfminister Nadhim Zahawi konnte sich das nicht verpflichtend vorstellen, hält es aber für denkbar, dass manche Lokale nach einem Impfbeweis vor Einlass fragen könnten.

Tory-Abgeordneter Sir Desmond Swayne zeigte sich darüber schockiert. Um die Impfgegner zu überzeugen, forderte er die Regierung auf, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen: „Wenn die gesamte Regierung und ihre Liebsten die Impfung nehmen, dann wird das eine Vorbildwirkung haben.“

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© 2018 Tessa Szyszkowitz