Der britische Ex-Premier Tony Blair über die Special Relationship zwischen USA und Großbritannien, Bidens Großvorhaben für die Weltpolitik, Boris Johnsons Brexitpläne und wie Österreich Terrorismus bekämpfen kann.
von Tessa Szyszkowitz im profil vom 16. November 2020
profil: Fühlen Sie sich bei Joe Biden und Kamala Harris ein bisschen an sich selbst erinnert? Sie wurden 1997 zum britischen Premierminister gewählt, weil sie als moderater Linker eine Mehrheit erreichen und das Land hinter sich einen konnten.
Blair: Joe Biden ist der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Er hat Erfahrung darin, wie man mit dem anderen politischen Lager zusammenarbeitet. Er ist nicht nur Zentrist, er ist auch jemand, der Konsens sucht. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, er ist ein wirklich anständiger Mensch. Kamala Harris mit ihrer Erfahrung als Senatorin natürlich auch. Das ist also das beste Ticket für die immens schwierige Herausforderung, Amerika zu einen. Denn diese Wahlen haben gezeigt, dass Amerika immer noch sehr, sehr gespalten ist.
profil: Überrascht es Sie, dass Donald Trump seine Niederlage noch nicht eingestanden hat und juristisch gegen Joe Bidens Sieg vorgehen will?
Blair: Es ist wirklich traurig. Doch die Amerikaner wickeln diesen Prozess gut ab, es gibt einen Rechtsstaat. Was Trump bei den Wahlen beanstandet hat, wird untersucht. All das passiert unter der Annahme, dass Biden der nächste Präsident ist.
profil: Wird der neue Präsident Joe Biden sich vor allem um die internen Probleme der Vereinigten Staaten kümmern müssen oder auch gleich bei der Außenpolitik ansetzen können?
Blair: Die größten Herausforderungen gibt es intern. Der Senat wird wohl unter der Kontrolle der Republikaner bleiben und Biden bei einigen Initiativen blockieren können. In der Weltpolitik wird der neue Präsident Amerika zum Multilateralismus zurückführen. Er wird die transatlantische Allianz wiederbeleben wollen, wir werden eine viel stabilere und vorhersehbarere Außenpolitik erleben. All das ist gut. Das Problem ist: Der Erdrutsch für die Demokraten fand nicht statt, weil es immer noch sehr viel Unterstützung für die Ideen von Donald Trump im Land gibt. Das kann man nicht ignorieren. Am Ende war das eine Wahl, in der es um Covid und Charakter ging. Wenn die Amerikaner über das Programm der Kandidaten abgestimmt hätten, dann wäre das Ergebnis noch viel knapper gewesen. Es wird also eine echte Herausforderung, dieses Land zu einen.
profil: Könnte Joe Biden einiges von Trumps Politik erhalten-auch wenn der Ton ein anderer wird? Etwa hinsichtlich China oder Israel?
Blair: Hinsichtlich China wird die Biden-Administration einen strategischen Rahmen für die China-US-Beziehungen schaffen, damit diese stabiler werden. Insgesamt werden wir eine große Veränderung erleben, wenn es um die Wiederaufnahme und Erneuerung von traditionellen Allianzen und multilateralen Beziehungen geht. Vor allem bei zwei Themen: der globalen Kooperation beim Kampf gegen Klimawandel und bei der Bekämpfung von Pandemien. Im Nahen Osten wird es spannend werden, zu sehen, wie der neue Präsident mit dem Iran umgeht. Das ist bisher noch unklar. Biden wird wohl das Abraham-Abkommen, den Friedensvertrag zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, weiter unterstützen.
profil: Wird er die amerikanische Botschaft von Jerusalem zurück nach Tel Aviv verlegen?
Blair: Nein, das wird er nicht machen. Vielleicht wird er kritischer gegenüber Israel in gewissen Bereichen sein als die vorherige Administration. Generell aber wird Joe Biden im Nahen Osten eher konventionell agieren.
profil: Sein erster Anruf im Ausland galt dem britischen Premierminister Boris Johnson. War es nur Wunschdenken aufseiten der Proeuropäer hier in Großbritannien, dass Boris Johnson wegen seiner Unterstützung für Donald Trump von Biden jetzt ans Ende der Schlange geschickt wird?
Blair: Joe Biden nimmt die "Special Relationship" zwischen den USA und Großbritannien sehr ernst. Sein Anruf bei Boris Johnson ist ein Zeichen dafür, dass er an konventioneller Außenpolitik interessiert ist. Amerikanische Präsidenten rufen immer als Erstes in London an. Großbritannien kann bei den Themen, wo man sich einig ist, eine Rolle spielen. Beim Klimawandel zum Beispiel. Die Briten übernehmen 2021 auch den Vorsitz der G7 von den USA (Gruppe der sieben führenden Industriestaaten, Anm.).Ich weiß aus meinen Gesprächen mit Joe Biden über die Jahre, dass er sehr für die transatlantische Allianz eintritt und dass er ein großer Fan der Europäischen Union ist. Eine erfahrene Politikerin wie Angela Merkel ist da eine natürliche Gesprächspartnerin. Der Respekt für Emmanuel Macron ist in Washington auch groß.
profil: Für Boris Johnson nicht so sehr?
Blair: Sie wissen, dass Joe Biden den Brexit nicht unterstützt hat. Der Brexit schwächt Britannien-politisch und ökonomisch. Die Briten verlassen die größte politische Union der Welt und den größten Handelsmarkt direkt vor der Haustüre. In meiner Zeit als Premierminister haben Bill Clinton und George W. Bush mich als Vermittler zwischen den USA und der EU gesehen. Diese Rolle wird Boris Johnson jetzt nicht mehr spielen.
profil: Joe Biden hat die britische Regierung noch im September gewarnt, das Karfreitagsabkommen, das den Frieden in Nordirland sichert, nicht aufs Spiel zu setzen. Johnson will nämlich ein Gesetz zur Regelung des internen britischen Marktes beschließen, das den von ihm unterzeichneten Scheidungsvertrag mit der EU in einigen Punkten bricht. Sollte Johnson diese Warnung ernst nehmen?
Blair: Absolut. Joe Biden ist ein leidenschaftlicher Unterstützer des Friedensprozesses in Nordirland. Das war schon damals klar, als ich an der Regierung war und wir den Friedensvertrag aushandelten. Ich war natürlich von Anfang an gegen dieses Gesetz zum Internen Markt. Das House of Lords (die zweite Kammer des britischen Parlaments, das beratende Funktion hat, Anm.) hat es in seiner jetzigen Form gerade abgelehnt-ich finde, das wäre eine gute Entschuldigung, es fallen zu lassen. Doch ich nehme an, dass das Gesetz sowieso obsolet ist, wenn die britische Regierung mit der EU ein Freihandelsabkommen schließt. (Das neue Gesetz zum britischen Binnenmarkt ist von Boris Johnson als Versicherung für den Fall vorgesehen, dass Großbritannien ohne Abkommen am 1.1.2021 aus dem EU-Binnenmarkt austritt, Anm.)
profil: Halten Sie es für wahrscheinlich, dass die britische Regierung noch bis zum EU-Gipfel am 19. November ein Freihandelsabkommen mit der EU zustande bringt?
Blair: Zu 75 Prozent, ja. Ohne Abkommen droht uns Ende des Jahres ein großes wirtschaftliches Problem.
profil: Barack Obama warnte die Briten vor dem EU-Referendum, dass sie sich im Falle eines Austritts aus der EU auch in Washington hinten anstellen müssten, wenn es um ein Handelsabkommen mit den USA geht. Trump dagegen hat Johnson gerade wegen des Brexit ein Abkommen versprochen. Wie schätzen Sie die Chancen unter Präsident Biden ein?
Blair: Vielleicht wird Biden sich nicht extra darum bemühen. Aber die USA haben sicher ein großes Interesse an einem Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich. Die Wahrheit ist allerdings, dass es bei diesen Verhandlungen um jedes kleine Detail des Handels geht. Mit den Amerikanern gibt es sehr problematische Punkte, allein bei der Landwirtschaft und bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Die Gespräche werden also auf jeden Fall sehr hart. Es war immer eine Fantasie, zu glauben, dass wir bis Ende des Jahres einen Handelsvertrag mit den Amerikanern haben werden.
profil: Was kann Europa von Joe Bidens Sieg über den Populisten Trump lernen?
Blair: Um Populismus zu besiegen, braucht man jemanden, der die Bevölkerung einen kann. Auf keinen Fall sollte man gegen rechten Populismus linken Populismus setzen. Doch der Populismus ist ja noch nicht besiegt. Progressive Politik muss also weiter denken.
profil: Welche Lehren soll Ihre Labour Party aus den US-Wahlen ziehen?
Blair: Joe Biden eint die Leute. Es gibt nicht viele, die ihn nicht mögen.
profil: Stimmt das? Einige meiner amerikanischen Freundinnen fanden es sehr schwierig, ihre Kinder davon zu überzeugen, für Joe Biden zu stimmen, weil er für sie ein viel zu alter, weißer Mann ist.
Blair: Das stimmt natürlich. Jüngere Leute finden ihn nicht radikal genug. Damit wird sich diese demokratische Administration beschäftigen müssen: Wie kann man etwas ändern, das die Leute dann auch spüren? Vor allem, wenn der Senat republikanisch bleibt. In den USA ist progressive Politik immer noch eine große Herausforderung. Radikale Menschen sind nicht vernünftig und Vernünftige nicht radikal. Deshalb ist es eine zentrale Aufgabe der progressiven Politik, eine starke wirtschaftliche Botschaft für die Technologie-Revolution zu haben. Daran arbeiten wir in meinem Institut. Denn das ist der größte faktische Wandel in der Welt. Wir müssen ihn nutzen. Und dann müssen wir uns bei kulturellen Fragen wieder ins Zentrum bewegen, die Linke läuft da Gefahr, Positionen einzunehmen, die die Leute vertreiben. Unter Keir Starmer ist die Labour Party jetzt wieder ins Zentrum gerückt, er hat seinen Job bisher gut gemacht. Jetzt sind alle wieder gesprächsbereit. Sein Vorgänger Jeremy Corbyn hat einem ja die Tür ins Gesicht geknallt.
profil: Österreich, auch Frankreich, erlebten in den letzten Wochen Terroranschläge. Die Briten haben seit Jahrzehnten bittere Erfahrungen mit Terrorismus gesammelt, was würden Sie der österreichischen Regierung raten, wie man den Terrorismus bekämpft?
Blair: Auch da gilt: Wir müssen alle zusammenarbeiten. Bei der Sicherheit sowieso. Aber auch bei der Ideologie, die hinter der Gewalt steht. Wir brauchen eine starke Allianz gegen den radikalen Islam. Emmanuel Macron hat recht, wenn er zwischen Islam-der Religion-und dem Islamismus-der Politisierung der Religion-unterscheidet. Und wir müssen uns mit den Modernisierern im Nahen Osten zusammentun, jenen die sagen: Unsere Zukunft ist die religiöse Toleranz.
INTERVIEW: TESSA SZYSZKOWITZ, LONDON
Tony Blair, 67, wurde 1997 als Vertreter des "Dritten Weges", einer moderaten Variante der Sozialdemokratie, zum britischen Premierminister gewählt. Der charismatische Blair verwandelte sein Land in "Cool Britannia" und reformierte das britische Rechtssystem; unter ihm wurde der nordirische Friedensvertrag 1998 unterzeichnet; als Proeuropäer sprach er sich für die Osterweiterung der EU aus; Blair führte britische Truppen gemeinsam mit US-Präsident George W. Bush 2003 in den Irak-dieses militärische Engagement ist bis heute sehr umstritten. Nach seinem Rücktritt 2007 wurde Blair vom sogenannten "Quartett" (USA, EU, Russland und UNO) zum Sondergesandten für den Nahen Osten ernannt, eine Rolle, die er bis 2015 wahrnahm. Seitdem leitet er das Tony Blair Institute for Global Change. profil traf ihn mit einer Gruppe von europäischen Korrespondenten nicht in seinen Büros in Londons hedonistischem Bezirk Fitzrovia, sondern wegen des englischen Corona-Lockdowns auf Zoom.