-Streit um Corbyns Antisemitismus-Problem zerreißt Labour
Vor einem Jahr wollte Jeremy Corbyn noch britischer Premierminister werden, jetzt hat der ehemalige Labour-Chef seine politische Heimat verloren: Sein Nachfolger Keir Starmer suspendierte den 71-jährigen Altlinken über den Antisemitismus-Streit, der die Partei zu zerreißen droht.
Einig sind sich in der linken Reichshälfte des Vereinigten Königreichs alle über eines: Der gestrige Donnerstag war, so hatte es Labourchef Keir Starmer ausgedrückt, ein „Tag der Schande“ für die traditionelle Arbeitspartei. Die Mitgliedschaft des ehemaligen Parteichefs Jeremy Corbyn in der Labour-Party war suspendiert worden. Corbyn selbst zeigte sich „tiefst schockiert“, er sei schließlich seit einem halben Jahrhundert Mitglied gewesen. Seine Gegner dagegen – und dazu zählt auch sein Nachfolger Keir Starmer - empfanden allerdings nicht die Suspendierung Corbyns als schändlich, sondern den Umgang der Labour Party unter Corbyns Führung mit antisemitischen Vorfällen.
Ein Untersuchungsbericht der britischen Kommission für Gleichheit und Menschenrechte (EHRC) wirft der ehemaligen Parteispitze vor, antisemitische Vorfälle nicht ausreichend verfolgt zu haben. Die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn hat demnach das Gleichstellungsgesetz aus dem Jahre 2010 dreimal gebrochen: Sie habe Beschwerden um antisemitische Vorfälle politisch motiviert heruntergespielt; sie habe jene Mitarbeiter, die sich um diese Beschwerden kümmern sollten, nicht ausreichend ausgebildet; und sie habe jene, die Klagen wegen Antisemitismus vorgebracht haben, unter Druck gesetzt und belästigt.
Der Antisemitismus-Streit ist mit diesem Bericht nicht wie erhofft beendet worden. Zu tief sind die Verletzungen der vergangenen Jahren. Der moderate Flügel zeigte sich seit Jahren entsetzt darüber, dass eine Partei, die historisch immer das antirassistische Lager und die politische Heimat der britischen Juden gewesen war, unter Jeremy Corbyn plötzlich ein Antisemitismus-Problem bekommen hatte.
Luciana Berger war eine jener acht Abgeordneten, die im Februar 2019 aus Protest gegen den grassierenden Antisemitismus aus der Partei ausgetreten waren. „Ich wurde bedroht und antisemitisch belästigt – und zwar aus den eigenen Reihen“, sagte die 39-jährige Politikerin, die zu den Liberaldemokraten wechselte, in einem Fernsehinterview rückblickend. Vorausschauend meinte sie: „Corbyn sollte sich überlegen, auch sein Abgeordnetenmandat zurücklegen.“
Schon immer gegen die Parteilinie
Die linke Fraktion um Corbyn zeigt sich gleichermaßen empört über den Antisemitismus-Streit. Er selbst sieht sich als lebenslangen Aktivisten gegen Rassismus und bezeichnete den Bericht postwendend als „politisch motiviert“ und „übertrieben“. Der 71-jährige Altlinke wird seine Suspendierung bekämpfen.
Das ist nicht weiter überraschend. Schließlich hat der Abgeordnete für den Nordlondoner Wahlkreis Islington immer schon gegen die eigene Parteiführung opponiert – über 600 Mal stimmte der demokratische Sozialist gegen die eigene Parteilinie im britischen Unterhaus, bevor er 2015 selbst als Außenseiterkandidat zum Chef der Partei gewählt wurde. Nachdem er anfänglich viele junge Linke begeistert hatte, brach die Unterstützung für ihn bei den nationalen Wahlen 2019 in sich zusammen. Als Nachfolger wählten die Mitglieder im April 2020 den moderaten und forensisch genauen Juristen Keir Starmer.
Die Stunde der Gegner
Als Corbyns Mitgliedschaft am Donnerstag suspendiert wurde, stieg nicht nur die Wut seiner Fans beträchtlich. Auch seine finanziellen Kapazitäten schwollen an. „Jeremy’s Legal Fund“, ein Fundraiser für den Ex-Chef, mit der er seine Gerichtskosten für ein Verfahren wegen Verleumdung gegen einen BBC-Reporter bezahlen soll, wuchs Freitagvormittag auf 362.000 Pfund (ca. 400.000 Euro) an. Über 18.000 Spender wurden verzeichnet, die meisten von ihnen gaben zehn Pfund pro Kopf. „Die ewigen Attacken gegen Mr. Corbyn - einen Mann von Integrität, Ehrlichkeit und Bescheidenheit - dürfen nicht weitergehen. Diese Initiative soll ihn wissen lassen, dass seine Unterstützer ihn nicht vergessen haben.“
Erst einmal aber ist dies die Stunde seiner Gegner. Jahrelang hatte Keir Starmer als Schattenminister für den Brexit zusehen müssen, wie Corbyn in Sachen Brexit und Antisemitismus die Partei in eine dogmatische Sackgasse geführt hat. Der Proeuropäer Starmer will jetzt gemeinsam mit seinem Team die Labour Party wieder in Richtung aufgeklärten Internationalismus führen.
Der erste suspendierte Ex-Parteichef
Das ist in der derzeit gespaltenen Partei nicht einfach. Schattenaußenministerin Lisa Nandy saß einst auch in Corbyns Schattenkabinett, verließ dieses aber nach einem Jahr 2016 aus Protest gegen seine Brexitpolitik und seinen Unwillen, gegen antisemitische Vorfälle in den eigenen Reihen vorzugehen. „Es ist richtig, Corbyn zu suspendieren“, sagte die 41-jährige Abgeordnete aus dem nordenglischen Wigan nun.
Jeremy Corbyn ist somit der erste ehemalige Parteichef der Labour-Party, dessen Mitgliedschaft zumindest temporär ausgesetzt wurde. Sollte er nach der nun folgenden parteiinternen Untersuchung aus der Partei ausgeschlossen werden, dann teilt er dieses Schicksal mit dem ehemaligen Labour-Premierminister Ramsay MacDonald. Im Gegensatz zu Corbyn war MacRamsay Zentrist. Er wurde 1931 aus der Partei geworfen, weil er die Partei in eine nationale Koalition mit Konservativen und Liberalen geführt hatte, um gemeinsam gegen die Wirtschaftsdepression zu kämpfen. MacDonald blieb noch bis 1935 Premierminister.
„Ein Akt schwerwiegender Ungerechtigkeit“
Corbyns Chancen auf eine weitere politische Karriere stehen dagegen derzeit schlecht. Zwar warf sein alter Freund Len McCluskey sein ganzes politisches Gewicht für ihn in die Waagschale: „Die Suspendierung ist ein Akt schwerwiegender Ungerechtigkeit“, sagte der Chef der mächtigen Gewerkschaft Unite in einem Interview düster. Und: „Einer gespaltenen Partei droht die Niederlage.“ Unite ist der größte Geldgeber der Partei. Ohne McCluskeys politische und finanzielle Unterstützung wird es für Starmer eng. Schon im Oktober hatte McCluskey einen Teil der bisherigen Gelder in Richtung von sozialistischen Gruppen links von Labour umleiten lassen.
Vor einem offenen Bruch aber schreckt auch McCluskey jetzt zurück. Er forderte die Corbyn-Fans auf, „die Partei nicht zu verlassen und gemeinsam einen besseren Weg zu finden“.