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Aufstand in Manchester

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CORONA IN GROSSBRITANNIE-Aufstand in Manchester

Im Norden Englands grassiert Covid-19 besonders heftig. Die gebeutelten Städte fordern mehr Hilfe von Premierminister Boris Johnson. So wird die Corona-Pandemie zum Zankapfel zwischen oppositioneller Labour-Party und der konservativen Regierung in London. 

Andy Burnham macht keine Anstalten, seine Erschöpfung und Empörung zu verbergen: „Es ist Zeit, dass Teile Englands sich für mehr Autonomie von der Regierung in Westminister stark machen“, meint der 50-jährige Labour-Politiker im Videochat mit Manchester EveningNews. Der Bürgermeister der nordenglischen Metropole Manchester hat seit Tagen rund um die Uhr Interviews und Pressekonferenzen in lokalen Medien gegeben. „Westminister kontrolliert Macht und Moneten. Wir Bürgermeister im Norden müssen das Knie beugen und um Geld betteln.“

Einladung in den gebeutelten Norden

Es riecht nach Rebellion in England. Seit Mittwoch sind die Verhandlungen zwischen Andy Burnham und Boris Johnson über zustätzliche Coronahilfen für die besonders vom Virus betroffene Stadt zusammengebrochen. Während andere Gemeinden sich mit der Zentralregierung einigen konnten, fordert Burnham mehr. Genau genommen 65 statt der gebotenen 60 Millionen Pfund. Der Premierminister aber blieb bisher hart. „Wir sind nicht im Krieg gegen lokale Politiker“, sagte er bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Downing Street. Burnham forderte ihn daraufhin auf, im Norden vorbeizukommen, um die Lage vor Ort zu studieren.

Am Freitag wurde in Manchester die höchste Corona-Warnstufe verhängt. Pubs ohne Küche müssen für 28 Tage zusperren. Zwei Haushalte dürfen sich nicht mehr in Innenräumen oder in Privatgärten treffen. Für das Gastgewerbe sind diese Maßnahmen ein schwerer Schlag. 

Höhere Mortalität und belegte Krankenhäuser

Gleichzeitig sind die Corona-Infektionen derart in die Höhe geschnellt, dass die Krankenhäuser schon voll belegt sind und das Florence-Nightingdale-Feldspital demnächst wieder Patienten aufnehmen wird müssen. In England ist auch die Todesrate wieder sehr hoch: Von 189 täglichen Covid-Opfern im Vereinigten Königreich sind am Donnerstag 160 allein in England gestorben (im Vergleich dazu in Deutschland: 49 Tote bei einer um 17 Millionen größeren Gesamtbevölkerung). 

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum Beispiel ist das „Test & Trace“-Programm der britischen Regierung nur bedingt effektiv. Das ist nicht unbedingt ein Einzelfall in Europa. Doch Boris Johnson und seine Minister ziehen seit Wochen den Zorn der Bevölkerung auf sich, weil sie ständig von „dem besten Programm der Welt“ sprechen, was sich weder statistisch noch inhaltlich belegen lässt. Nur 60 Prozent der Kontakte von Covid-Kranken werden erreicht. Nach Expertenmeinung ist alles unter 80 Prozent weitgehend sinnlos. 

Gastronomie gefährdet

Das Vereinigte Königreich war eines der letzten europäischen Länder, die im Frühling in einen Lockdown gegangen waren, und es kam als eine der letzten Nationen daraus mit großem Schaden für die Wirtschaft wieder heraus. Kaum hatten die Pubs in Manchester im Juli wieder geöffnet, mussten sie Anfang August bereits wegen steigender Infektionsraten wieder große Einschränkungen in Kauf nehmen. Was Bürgermeister Burnham im Besonderen erzürnt: Der britische Finanzminister Rishi Sunak verkündete am Donnerstag in einem weiteren Covid-Hilfspaket rückwirkende Hilfen für das Gastgewerbe in jenen Regionen, die in Stufe Zwei der Gegenmaßnahmen – „hohe Gefahr“ – gelandet sind. Dies betrifft zum Beispiel die Hauptstadt London. 

Manchester aber ist jetzt schon in Stufe Drei – in „sehr hoher Gefahr“. Pubs wie das legendäre „Star and Garter“, in dem Morissey-Fans einmal im Monat zur „Smiths Disco“ zusammenkommen, servieren kein Essen und müssen daher für fast einen Monat geschlossen bleiben. Viele fürchten, dass sie nie wieder aufmachen könnten, wenn die Regierung in London ihnen nicht verstärkt unter die Arme greift.

Schuld ist Thatcher

Seit Margaret Thatcher als Premierministerin in den 1980er-Jahren aus Furcht vor linken Bürgermeistern im Norden Englands die Autonomie der Gemeinden gekappt und die politische Macht im Londoner Regierungsbezirk Whitehall zentralisiert hat, ist London Englands allmächtige Hauptstadt. Während die anderen drei Nationen – Schotten, Waliser und Nordiren – eigene Parlamente und weitgehende Autonomie in Gesundheitsfragen haben, besitzen die Engländer keine eigene Nationalvertretung. 

Für eine Rebellion der Labour-Opposition gegen die konservative Tory-Regierung und ihre satte Mehrheit im Unterhaus eignet sich Boris Johnson als Wiedergänger der eisernen Lady in diesem Corona-Herbst besonders gut. „Ich bin unter Margaret Thatcher aufgewachsen“, sagt Lisa Nandy, Schattenaußenministerin und Abgeordnete der Kleinstadt Wigan, die dreißig Zugminuten von Manchester entfernt liegt, „aber so etwas wie jetzt habe ich noch nie erlebt.“

Der unbeliebte Johnson und die wahren Helden

Dem einstigen Bürgermeister von London werden wenig Sympathien für den armen Norden nachgesagt. Dass Johnson noch vor einem Jahr die Labour-Wähler im Norden mit seiner Brexit-Politik begeistert hat, kann man sich im Herbst 2020 kaum mehr vorstellen. Die Existenzangst angesichts der Corona-Pandemie hat alle anderen Themen verdrängt. Johnsons Beliebtheit sinkt mit jedem Monat, in dem er das Coronavirus nicht besiegen kann. 

Die wahren Helden sehen derzeit anders aus. Wie Marcus Rashford zum Beispiel. Der 22-jährige schwarze Stürmer von Manchester United und dem englischen Nationalteam hat nicht nur deshalb 3,5 Millionen Follower auf Twitter, weil er einer der besten Fußballer Englands ist. Als Kind einer alleinerziehenden Mutter, deren Familie aus der Karibik einwanderte, kämpft der junge Kicker gegen Kinderarmut. Für seine Kampagne während des ersten Covid-Lockdowns im Frühling 2020 – er forderte gratis Schulessen auch bei geschlossenen Schulen – wurde er von der Queen als „Member of the Order of the British Empire“ geehrt.

Rashford wurde aber vor allem deshalb für seinen Einsatz jenseits des Fußballfeldes berühmt, weil die konservative Regierung seinen Aufruf lange Zeit ignoriert hatte. Erst im Juni hatte die Regierung nachgegeben und kostenloses Essen im Sommer an bedürftige Kinder verteilt. 

Unterstützung aus dem Norden

Jetzt wiederholt sich der Vorgang. Am Mittwoch lehnte die Tory-Mehrheit im Unterhaus Rashfords neuen Vorstoß ab, armen Kindern Essens-Vouchers von den Herbstferien über die Weihnachtsfeiertage bis zu den Ostertagen zu besorgen. Eineinhalb Millionen bedürftige Kinder hätten 15 Pfund pro Woche bekommen sollen. 

Der Abgeordnete Ben Bradley meinte, „Geschenke sind Pflaster, keine Lösung“. Rashford antwortete auf Twitter: „Ich bin kein Politiker, aber diese Kinder sollten uns am Herzen liegen.“ Er verlangt von Boris Johnson, eine Lösung zu finden.  

Da der Premierminister dazu erst einmal schweigt, gewinnt gerade eine landesweite Bürgerinitiative an Fahrt. Restaurants überall im Land bieten gratis Schulessen an. Ganz vorne mit dabei: Der Bürgermeister von Manchester. Andy Burnham stiftet während der Herbstferien kommende Woche schon mal 1000 Essens-Vouchers.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz