-Harter Brexitherbst
Vor den Gesprächen über das künftige Verhältnis von Großbritannien und der EU verhärten sich die Fronten erneut. Will Boris Johnson die EU mit seinen Provokationen bloß zu einem besseren Deal bewegen oder gedenken die Briten, die Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen tatsächlich zu sprengen?
Diesen Dienstag beginnt die achte Verhandlungsrunde zwischen Großbritannien und der EU über ein Freihandelsabkommen. Bis Mitte Oktober sollen diese abgeschlossen sein, damit das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 nicht ohne Abkommen aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion austritt. Denn dann endet die Übergangsphase, die seit dem offiziellen Brexit am 31. Januar 2020 läuft. Die Zeit drängt. Da Großbritannien seit 47 Jahren Mitglied der EU war, sind die Gespräche über eine Abwicklung der sehr engen wirtschaftlichen Vernetzung kompliziert.
Wieder alles anders
Laut einem Bericht in der Financial Times aber deutet einiges darauf hin, dass der britische Premierminister Boris Johnson gar keine weiteren ernsthaften Verhandlungen mehr plant. Am Mittwoch soll ein britisches Gesetz präsentiert werden, das die Bestimmungen des Austrittsvertrages, den Großbritannien mit der EU unterzeichnet hat, bei Zuschüssen und Zollkontrollen in Nordirland außer Kraft setzen würde.
„Ich vertraue der britischen Regierung, das Austrittsabkommen zu implementieren, das ist eine Verpflichtung nach internationalem Recht“, meldete sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen am Montag vormittag warnend aus Brüssel zu Wort.
Königreich soll ohne Abkommen „gedeihen“
Sogar seine eigenen Minister sind, wie die Engländer dies gerne nennen, „puzzled“, also verwirrt. Will Boris Johnson die EU bloß zu Beginn einer neuen Verhandlungswoche in Panik versetzen und zu einem besseren Brexit-Deal bewegen? Oder ist der britische Premierminister tatsächlich der Meinung, dass das Vereinigte Königreich ohne Freihandelsabkommen mit der EU „prächtig gedeihen“ wird? Die Herbstsaison beginnt, die blonde Bombe explodiert wieder.
Am Sonntagabend hatte das Presseteam in Downing Street vorab die Worte des Premierministers an Journalisten, darunter auch Cicero, ausgesendet, die am Montag als Video unter die Leute gebracht werden sollten: „Es kann immer noch zu einem Abkommen mit der EU kommen“, wollte Boris Johnson demnach sagen: „Aber wir können und werden kein Abkommen akzeptieren, bei dem die Grundlagen eines unabhängigen Landes kompromittiert werden.“
Fehlende Kompromissbereitschaft
Danach brach ein Twittersturm los, der am Montag Vormittag noch Fahrt aufnahm. „Die EU weigert sich zu begreifen, dass wir wirklich ein unabhängiges Land sein wollen“, sagte Umweltminister George Eustice, der am Montag Früh in die Fernsehstudios entsandt wurde, um die neue Brexitvolte zu erklären.
Der neue deutsche Botschafter in London, Andreas Michaelis, erlaubte sich in einem Tweet eine erhobene Augenbraue: „Nach den Worten des Premierministers muss Deutschland sich fragen, ob es noch ein unabhängiges Land ist. Deutschland ist Vertragsstaat von hunderten internationalen Verträgen. Damit verbundene Kompromisse haben sicherlich nicht unsere Souveränität ausgehöhlt.“
Hardliner fürchten um Souveränität
In Großbritannien hat sich die Regierungspolitik im Zuge der Brexit-Debatte gegenüber der EU radikalisiert. 2016 waren viele Brexit-Befürworter dafür, die politischen Institutionen der EU zu verlassen, sie wollten aber im EU-Binnenmarkt oder zumindest wirtschaftlich eng vernetzt bleiben. Immerhin gehen 43 Prozent der britischen Exporte in die EU.
Der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion ist für die meisten britischen Händler ohnehin schon ein Schock – statt Zollfreiheit stehen Zölle, Checks, Dokumente und damit mehr Kosten und Verzögerungen an. Je härter der Bruch, um so größer wird der Schmerz für die Briten sein. Inzwischen gilt allerdings in Boris Johnsons Regierung, in der seine loyalen Brexiteers sitzen, jeder Kompromiss bei Handelsfragen als Einmischung in die Souveränität Britanniens.
EU fordert faire Bedingungen
Für die Verhandlungen zwischen EU und Großbritannien über einen Freihandelsvertrag ist diese inhaltliche Verschiebung schwierig. Es bleibt bis zum Ablauf der Übergangsphase am 31. Dezember 2020 kaum mehr Zeit für die detailreichen Verhandlungen, wenn nicht einmal die Grundlagen klar sind.
Michael Barnier, der EU-Chefverhandler in den Brexitgesprächen, gab dem französischen Radio am Montag ein Interview, in dem er erklärte: „Es sind schwierige Verhandlungen, weil die Briten ihre Produkte in einen Markt von 440 Millionen Konsumenten zu ihren Bedingungen exportieren wollen … wir aber hätten gerne faire Bedingungen.“
Der Premier der großen Worte
Boris Johnson, daran erinnert man sich noch gut aus dem Herbst 2019, verspricht gerne Dinge, die er dann nicht hält. Er wollte ja an sich „lieber tot im Graben liegen“, als den Brexit zu verschieben. Dann verschob er den Brexit doch. Dass er den Brexit überhaupt noch liefern konnte, lag vor allem daran, dass er am Ende einen Deal akzeptierte, der eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien einführte. Genau dies zu verhindern, hatte er ebenfalls fest versprochen. In diesem Licht besehen, könnte es sich auch bei seinen jüngsten Ankündigungen bloß um eine provokante Strategie handeln, um die EU zu Zugeständnissen zu bringen. Gerade bei der Frage, wie weit Fischereirechte und staatliche Zuschüsse in Zukunft geregelt werden, gibt es noch keine Einigung.
Das Pfund fiel jedenfalls erst einmal gegenüber dem Euro. Nicht nur die britische Währung, auch die Stimmung der Bevölkerung auf der Brexitinsel war gedämpft. Denn nicht nur stehen die Chancen für einen Deal mit der EU schlecht, auch die Covid-Zahlen steigen wieder. Am Sonntag wurden bereits knapp 3000 tägliche Neuinfektionen bekannt gegeben. Dem Vereinigten Königreich droht ein harter Herbst.