Das Vereinigte Königreich hat seine eigenen “Black Lives Matter”-Proteste. Und auch eine ganz eigene Geschichte mit dem Rassismus.
Von Tessa Szyszkowitz, London
Bevor die Sklaven der Royal African Company auf Schiffe verladen wurden, brannte man ihnen, auch den Frauen und Kindern, das Firmenkürzel RAC auf die Brust. Zwischen 1680 und 1692 wurden 84.000 Sklaven aus Westafrika in die Karibik und nach Amerika verschifft. Ein Viertel starb auf der Überfahrt an den unmenschlichen Bedingungen. Einer der wichtigsten Geschäftsleute in der Royal African Company in diesen Jahren war ein Mann namens Edward Colston.
Gute dreihundert Jahre nach seinem Ableben ist der Sklaventreiber wieder in aller Munde. Am Sonntag abend wurde seine Statue von anti-rassistischen Demonstranten vom Podest gestürzt, durch das Stadtzentrum von Bristol gerollt und im Hafen ins Wasser geworfen. Die Stadtväter von Bristol hatten Edward Colston 1895 ein Denkmal gesetzt, weil er auch eine philanthropische Seite hatte und mit seinem im Sklaven- und Zuckerhandel erwirtschafteten Vermögen viel Gutes getan hat. Er hat Schulen, Kirchen und Krankenhäuser in Bristol gesponsert.
“Ich kann den entstandenen Schaden nicht entschuldigen. Und die Massenproteste ohne soziale Distanz sind gefährlich für eine zweite Welle von Covid-19”, sagt Marvin Rees, Bürgermeister von Bristol, am Montag in einem Interview. Im speziellen Fall der gestürzten Statue zeigt Rees allerdings Verständnis für den politischen Hintergrund des Vandalismus: “Ich stamme selbst aus Jamaica und ich kann nicht so tun, als wäre diese Statue für mich nicht ein Affront gewesen.”
Seit Tagen kommt es in Großbritannien zu heftigen Straßenprotesten, die von den “Black Lives Matter”-Demonstrationen in den Vereinigten Staaten inspiriert wurden. Diese brachen aus, nachdem George Floyd am 25. Mai in Minnesota von einem weißen Polizisten getötet worden war. Seine letzten Worte “I can’t breathe” - “Ich bekomme keine Luft” - die auf einem fast neun Minuten langen Video festgehalten wurden, sind zum Protestruf der antirassistischen Demonstrationen weltweit geworden. Im Vereinigten Königreich sind rassistische Vorfälle bei polizeilichen Amtshandlungen ebenfalls keine Seltenheit.
Die Briten haben sich im Unterschied von den Amerikanern nie direkt mit dem Rassismus in ihrer Gesellschaft auseinandergesetzt. Dabei hat das Britische Empire vom Sklavenhandel enorm profitiert. Es gab im 17. Jahrhundert ein lukratives Dreieckssystem: In Afrika luden britische Sklavenhändler ihre Schiffe mit menschlicher Fracht voll, in der Karibik und in Amerika wurde sie verkauft und die Schiffe mit Produkten aus den Plantagen wie Zucker und Rum aufgefüllt. Die Fracht wurde in England zu Gewinn gemacht. In Britannien selbst gab es nie Sklavenplantagen. Deshalb konnte man später leichter so tun, als hätte man sich am schändlichen Menschenhandel nur peripher beteiligt.
“Bis heute tut die Regierung so, als ginge uns das alles nicht an”, sagt David Lammy, Schatten-Justizminister der Labour-Party: “Das ist pure Ignoranz.” Tatsächlich hatte etwa Gesundheitsminister Matt Hancock in Interviews am Sonntag noch gesagt: “Dankenswerter Weise sind die Demonstrationen hier im Vereinigten Königreich bloß eine Antwort auf die Ereignisse in Amerika.” Innenministerin Priti Patel, die in der konservativen britischen Regierung als Hardlinerin gilt, meldete sich ebenfalls zu Wort. Der Sturz der Colston-Statue sei “absolut schändlich” und “purer Vandalismus komplett unakzeptabel.”
Nachdem tausende Demonstranten seit Tagen mehrheitlich friedlich – und teilweise auch sozial distanziert im Hyde Park - demonstriert hatten, kam es vor Downing Street und am Parlamentsplatz am Wochenende zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. 27 Polizisten wurden verletzt, einige Ruhestörer wurden verhaftet. Die Statue von Winston Churchill wurde beschmiert. “Ich bin sehr traurig darüber, dass eine Minderheit gestern gegenüber der Polizei gewalttätig geworden ist”, sagte Polizeichefin Cressida Dick.
Die britische Polizei hat sich seit Tagen ganz offensichtlich zurückgehalten und versucht, die Wut der Demonstranten nicht noch anzuheizen. Auffallend war dies auch am Sonntag Abend in Bristol, als die Polizei nicht eingriff, während Colstons Statue gestürzt und entsorgt wurde. Als die mehrheitlich weißen Aktivisten die Statue durch die Innenstadt zum Hafen rollten, sahen die ebenfalls mehrheitlich weißen Polizisten zu. “Es war richtig, nicht einzugreifen, ich bereue es nicht”, meinte Superintendent Andy Bennett von der Polizei von Avon und Somerset am Montag Vormittag: “Diese Statue hat in der schwarzen Gemeinschaft ziemlich viel Kummer ausgelöst.”
Der Ruf, sich kritisch mit der Vergangenheit verschiedener englischer Philanthropen auseinanderzusetzen, wird seit Jahren im Vereinigten Königreich lauter. Vor einem College in Oxford steht nach wievor die Statue von Cecil Rhodes, der wie Colston von Sklavenarbeit profitiert und einen Teil seines Profits später dem College spendete. Oxford hat sich geweigert, die Statue zu entfernen.
Eine Petition für die Entfernung von Colstons Statue hatte bereits 11.ooo Unterschriften gesammelt. Passiert aber war nichts. Die Konzerthalle in Bristol, die seinen Namen trägt, wird demnächst allerdings umbenannt. Was für die einen politischer Aktivismus im Namen von Menschenrechten ist, gefähdet für andere Ruhe und Ordnung. Labour-Chef Keir Starmer klärte diese Frage für sich am Montag so: “Die Statue hätte längst entfernt werden sollen. Sie zu stürzen war allerdings nicht richtig.”
Für den britischen Premierminister Boris Johnson ist die Rassismus-Debatte nur eine Sorge mehr auf seiner ohne gut gefüllten Agenda. Die Bekämpfung des Coronavirus verläuft nach wie vor chaotisch. Ab heute gilt für Einreisende in der UK eine zweiwöchige Quarantäne, eine Maßnahme, die vor drei Monaten vielleicht wirksamer gewesen wäre, als man niemanden getestet hat. Es sterben immer noch täglich bis zu 300 Menschen an Covid-19 im Vereinigten Königreich, 40.000 Tote hat das Virus brereits gekostet. Daneben gehen die Brexitverhandlungen über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen EU und UK in eine entscheidende Runde. In Brüssel wird ein hartes Ende ohne Abkommen befürchtet.
Auch in Sachen Rassimus kann Boris Johnson keine Erfolgbilanz vorweisen. Er selbst wurde mehrfach für mangelnde Sensibilität in Fragen Kolonialismus und Rassismus kritisiert – eine Eigenschaft, die in der englischen Upperclass öfters anzutreffen ist. Bei einem Besuch als Außenminister 2017 in Myanmar geriet er in die Schlagzeilen, als er in einer Pagode ein kolonialistisches Gedicht des englischen Schriftstellers Rudyard Kipling zitierte: “Komm zurück, du englischer Soldat!” Der britische Botschafter stoppte ihn damals vor laufender Kamera mit den Worten: “Das ist unangebracht.”
Zum Sturz von Edward Colstons Statue in Bristol und den gewalttätigen Ausschreitungen vor seinem Regierungssitz in London versuchte Boris Johnson jetzt staatsmännisch zu klingen: “Die Leute haben das Recht friedlich zu demonstrieren, aber nicht die Polizei anzugreifen.” Und dann setzte der Premierminister hinzu: “Die Demonstrationen sind zu Schlägereien verkommen.”
Ob das die Gemüter beruhigt, wird sich in den kommenden Tagen auf Englands Straßen zeigen.