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„Politik wird zum Katastrophenmanagement“

https://www.falter.at/zeitung/20200602/politik-wird-zum-katastrophenmanagement

„Politik wird zum Katastrophenmanagement“

Die israelische Soziologin Eva Illouz über den neuen Wert des Lebens, die Maske als ideologische Waffe und Israels bizarre Allianzen in der EU

TESSA SZYSZKOWITZ
FEUILLETON, FALTER 23/20 VOM 02.06.2020
 

Illustration: Georg Feierfeil

Eva Illouz ist eine der bedeutendsten Diagnostikerinnen unserer Zeit. Vor der Corona-Krise lebte die in Marokko geborene Soziologin in Paris und Jerusalem. Die Pandemie hat auch ihr Leben spürbar verändert. Illouz überdauerte den Lockdown, der in Israel besonders strikt kontrolliert wurde, in ihrer Wohnung in Jerusalem. Die erzwungene Ruhe der Isolation hat das Denken der globalen Intellektuellen eher noch beflügelt. Der Falter erreichte sie über Videolink zum Interview.

Falter: Frau Illouz, in Ihrem Buch „Warum Liebe endet“ beschreiben Sie, wie der Kapitalismus unser emotionales und romantisches Leben verändert hat. Jetzt ist der Kapitalismus in Verruf geraten. Die USA können ihre Bevölkerung nicht ausreichend vor der Covid-19-Pandemie schützen. Kommt die Liebe zurück?

Eva Illouz: Der Kapitalismus hat viele mächtige Strukturen, die sich nicht so einfach ändern lassen. Die Transformation der Liebe, die ich beschrieben habe, hatte mindestens so viel mit politischen Ideologien der Freiheit zu tun wie mit dem Kapitalismus. In der Corona-Krise waren wir nun das erste Mal damit konfrontiert, dass es Werte gibt, die wichtiger sind als Freiheit.

Werden wir in Zukunft weniger über Freiheit und das Wachstum der Wirtschaft und mehr über das Wohlergehen der Bürger nachdenken?

Illouz: Wir haben in der Krise sicher eines gelernt: Welches Risiko sind wir gewillt auf uns zu nehmen, um die Bevölkerung vor einer Pandemie zu schützen? Sind wir bereit, die ökonomische Existenz vieler Menschen dafür zu riskieren? In den vergangenen zwei Monaten war die Grundidee: Alles muss stillstehen, damit die Spitäler nicht von Covid-19-Patienten überwältigt werden. Für mich war äußerst auffällig, dass weltweit praktisch alle die gleiche Methode angewendet haben, um die Pandemie zu bekämpfen. Manche früher, manche später, manche strikter – aber Social Distancing lag all dem zugrunde. Und das Einverständnis, dass man lieber die Wirtschaft als das Leben aufs Spiel setzt. 1968 gab es eine Epidemie in Hongkong, die zwischen einer und vier Millionen Menschen das Leben gekostet hat, viel mehr als die jetzige Epidemie. Niemand hat damals auch nur im Geringsten daran gedacht, die Wirtschaft runterzufahren.

Heute finden das auch nicht alle toll.

Illouz: Manche kommen von links und protestieren gegen die Maßnahmen, weil sie sagen, wir können unsere Freiheit nicht aufs Spiel setzen. Andere argumentieren von rechts gegen das wirtschaftliche Opfer. In den USA hat die Coronakrise gezeigt, wie tief die zwei Lager ideologisch gespalten sind. Es gibt jene, die das First Amendment so auslegen, dass die Lockdown-Maßnahmen ihre Freiheit einschränken – selbst, wenn sie andere gefährden, bestehen sie auf ihr vermeintliches Recht. Das sind die gleichen, die im Namen des Zweiten Amendment mit Waffen herumgehen. Es ist fast ein politisches Statement geworden, ob man eine Maske trägt. Der Gesichtsschutz ist für diesen ideologischen Krieg mobilisiert worden. Dabei hat Covid-19 bereits 100.000 Leben gekostet. Die Massenproteste gegen den rassistischen Mord an George Floyd finden vor dem Hintergrund der tiefen sozio-ökonomischen Ungleichheit statt. Sie hat ihren Ausdruck darin gefunden, dass disproportional viel mehr Schwarze an Covid-19 gestorben sind. Der amerikanische Rassenkrieg wird über das Virus ausgetragen.

Bei dieser weltweiten Pandemie wurde offensichtlich, dass die neoliberalen Staaten weniger erfolgreich vorgehen konnten. Zählt das sozialdemokratischere Modell Europas zu den Gewinnern dieser Krise?

Illouz: Es ist ziemlich seltsam, dass jene Länder, die besonders schlecht abgeschnitten haben, von neoliberalen Politikern regiert werden. Sie sind übrigens auch die größten Klimawandel-Leugner. Sie haben die Gefahr des Virus lange verkannt. Der Schaden für Gesundheit und Wirtschaft ist dort am größten. Wir sprechen über Boris Johnson, Donald Trump und Jair Bolsonaro.

Vielleicht sehen wir das Ende des verantwortungslosen Populismus, wie wir ihn bisher kannten?

Illouz: Ja und nein. Die Corona-Pandemie hat zu einer fast überwältigenden Vertrauenskrise geführt. In Kriegszeiten passiert normalerweise das Gegenteil. Das Volk stellt sich hinter die Regierenden, hinter die Fahne. Das passierte aber hauptsächlich in Europa am Anfang der Krise. China hat allerdings auch kriminell gehandelt, weil es das Ausmaß der Epidemie so lange verschleiert hat. Das ist meiner Meinung nach eine neue Kategorie von Verbrechen.

Nach dem ersten Schock haben die Leute verstanden, dass manche ihrer Regierenden einfach nicht in der Lage waren, sie zu beschützen.

Illouz: Wir müssen vieles neu evaluieren. Der Kapitalismus wird in Frage gestellt. Aber auch alles, was wir glaubten, über Demokratie zu wissen. Immer wieder sehen wir, dass selbst starke Demokratien sehr, sehr fragil sind.

Diese Krise aber zeigt doch, dass der starke Staat am Ende den Strongmen überlegen ist?

Illouz: Politik wird mehr und mehr zum Katastrophenmanagement von Naturdesastern. Es wird auch in Zukunft zu totalen Unterbrechungen des Alltags auf der ganzen Welt kommen. Politik hat sich bisher als Kraft gesehen, die sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt propagiert. Jetzt aber wird es vermehrt darum gehen, Antworten da­rauf zu finden, wie man Lebensbedingungen erhalten kann. Ohne Staat wird das nicht gehen. Und zwar brauchen wir einen Staat, der alle sozialen Schichten repräsentiert.

Die deutsche Soziologin Gabriele Winkler hat in einem Interview (Falter 19/29) „revolutionäre Änderungen“ vorgeschlagen: eine kürzere Arbeitswoche, mehr Wohlfahrtsstaat, stärkere demokratische Strukturen, um alle einzubinden, und kommunale Hilfsprojekte wie Polikliniken.

Illouz: Sicher, das ist jetzt ein Moment, in dem revolutionäre Gedanken formuliert werden müssen. Wir leben allerdings in einer Plutokratie. Die Reichen kontrollieren das politische System. Ich wäre sehr froh, wenn wir den Wert von Arbeit neu bewerten könnten. Wir haben ja eine totale Umkehrung erlebt. Leute, deren Arbeit sonst kaum beachtet wird, standen plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie große Risiken auf sich genommen haben, um eine Minimalstruktur unseres Leben zu erhalten. In England und Amerika hat Covid-19 deshalb auch besonders die Minderheiten schwer getroffen, weil diese meistens in solchen Jobs anzutreffen sind. Ich hoffe, dass die Erinnerung daran, welche Rolle sie spielen, bleiben wird. Und wie unbezahlbar wichtig diese Jobs sind.

Wird der gesellschaftliche Druck groß genug für tiefgreifende Veränderungen sein?

Illouz: Ich hoffe es. Wir können jetzt unter experimentellen Bedingungen studieren, wie verschiedene Kontinente diese Krise bekämpfen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat einen neuen Plan für einen Rettungsfonds mit 750 Milliarden Euro vorgelegt. Das könnte ein entscheidender Moment sein, in dem die EU zeigt, dass sie gemeinsam eine Krise managen und wie eine Zentralbehörde agieren kann.

Ein heißes Thema während des Lockdown war, ob Frauen wieder in den 1950er-Jahren gelandet sind. Aber hat die Isolation nicht viel mehr gezeigt, dass Frauen ganz sicher nicht nur mehr zu Kindern und Küche zurückwollen?

Illouz: Wir wissen bisher nicht einmal, ob diese Krise wirklich einen langfristigen Effekt haben wird. Wenn es im November oder Dezember einen Impfstoff oder ein Medikament geben sollte, dann wird Covid-19 unsere Familienstrukturen wohl kaum auf Dauer verändern. Die Wirtschaft und die Gesundheitssysteme allerdings schon. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele werden keine Jobs mehr haben. Frauen, die noch einen Arbeitsplatz haben, werden es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben. Das verträgt sich schlecht mit patriarchalen Strukturen.

Junge Frauen, die bisher dachten, dass Feminismus passé ist, haben vielleicht jetzt auch gesehen, wie wichtig es ist, für Gleichberechtigung zu kämpfen?

Illouz: Eine feministische Bewegung kann ich mir eher vorstellen. Viele Frauen suchen jetzt um Scheidung an. Die häusliche Gewalt ist gestiegen. Die Lockdown-Erfahrung war ein riesiges Experiment, ob das Heim tatsächlich „Home, Sweet Home“ bedeutet. Das Resultat: Das Zuhause ist kein sicherer Ort für viele Frauen. Sie sitzen oft in kleinen, überfüllten Wohnungen mit vielen Familienmitgliedern und stecken sich gegenseitig an. Es geht aber natürlich auch darum, dass für Frauen und Kinder ein Zuhause nur dann ein sicherer Ort ist, wenn es eine Verbindung nach außen gibt.

Werden die Regierungen diese Lektion lernen und die Unterstützung für Frauenhäuser und dergleichen wieder hochfahren?

Illouz: In Ungarn sieht es nicht danach aus, dort schüttet Viktor Orbán Geld für traditionelle Familien aus.

Die Corona-Krise aber hat auch einen neuen Trend gezeigt. Viele Väter haben nach der Trennung von den Müttern ihrer Kinder gelernt, selbstständig auf Kinder aufzupassen und sich selbst zu versorgen. Sind moderne Männer besser als ihr Ruf?

Illouz: Männer wie Frauen hatten jetzt eine ganz neue Erfahrung: Hilfen, an die man in der Mittel- und Oberschicht gewöhnt ist – Putzpersonal und Kinderbetreuung am Nachmittag –, fielen plötzlich weg. Das Niveau an Häuslichkeit war sehr hoch. Arbeitende Frauen in traditionell heterosexuellen Beziehungen, die sonst fertiges Essen kaufen oder ins Restaurant gehen und die ihre Häuser von anderen putzen lassen, saßen plötzlich in einem veränderten häuslichen Rahmen fest. Die Männer aber auch. Sie haben auch mehr zu tun bekommen. Wir werden sehen, was diese kollektive Erfahrung bewirkt.

Weltweit konnten wir beobachten, dass Autokraten die Corona-Krise gerne für ihre Zwecke nutzen: Israels Premierminister Benjamin Netanjahu will die Annexion der Westbank durchziehen, während die Welt mit anderem beschäftigt ist.

Illouz: Immer öfter wird nicht trotz, sondern durch eine Krise regiert. Manche Krisen sind von außen auferlegt, zuweilen werden sie sogar konstruiert. Netanjahu ist auch jemand, der von der Krise lebt. Man kann dann leichter Verfassungsgrenzen verschieben und die eigene Exekutivgewalt ausbauen. Diesen „Reichstag on fire“-Moment nutzen diese Führer aus. Xi Jinping greift gerade mit dem neuen Sicherheitsgesetz auf Hongkong zu. Ich würde sagen, Krisen sind schlecht für Bürger und gut für autoritäre Führer, weil sie im Namen von Gesundheit und Sicherheit tun können, was sie wollen.

 

Wird Netanjahu mit seinem Plan durchkommen, Teile der Westbank zu annektieren?

Illouz: Den Annexions-Plan gab es schon vor der Corona-Krise. Netanjahu möchte gerne den Umstand nutzen, dass es in den USA eine außerordentlich leichtsinnige und inkompetente Administration gibt. Er will dieses Zeitfenster verwenden, um etwas zu tun, das gegen das internationale Gesetz verstößt. Außerdem rückt Netanjahu seine Likud-Partei weg vom Zentrum weiter nach rechts. Er will die Partei noch weiter für die Siedler öffnen.

Die EU hat ihn dafür kritisiert, aber Österreich und Ungarn haben im Unterschied zu den anderen EU-Regierungen die Erklärung nicht unterstützt.

Illouz: Wir sehen einige sehr bizarre Koalitionen zwischen Israel und Staaten, die wie Ungarn derzeit extrem weit rechts stehen und vor antisemitischen Kampagnen etwa gegen „den Juden“ George Soros nicht zurückschrecken. Ungarn ist wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass Soros ein Meme in der Welt des globalen Antisemitismus geworden ist. Man kann dies auf zwei verschiedene Art und Weisen betrachten. Hat Netanjahu diese Allianzen aus purer Strategie heraus gesucht? Gute Beziehungen zu kleinen und mittleren Staaten können Israel in strategischen Abstimmungen in der EU-Kommission nützen. Auch die Stimmen der kleinen Staaten zählen bei EU-Entscheidungen.

Was ist die zweite Option?

Illouz: Die zweite Möglichkeit ist noch verstörender. Es geht nicht um Strategie, sondern um tiefe ideologische Affinität zwischen israelischen Nationalisten und anti-europäischen Nationalisten. Netanjahus Sohn Yair hat kürzlich in einem Tweet „die Rückkehr eines christlichen Europas“ unterstützt. Das ist auch das Programm der PiS-Partei in Polen, von Orbán in Ungarn und der Volkspartei in Österreich.

Yair Netanjahu wurde gleich von der AfD als neuer Held gefeiert.

Illouz: Ja, aber eigentlich hat er in seiner unbeholfenen Art nur gesagt, was sein Vater politisch seit einer Weile vertritt: Er stellt das christliche Europa gegen das liberale Europa. Warum macht er das? Wenn du das Recht hast, einen Staat auf religiösen Werten zu begründen – das Christentum in Deutschland etwa –, dann können wir das hier in Israel auch tun. Wenn ihr rassistisch/antisemitisch/nationalistisch/christlich sein könnt, dann können wir auch rassistisch/nationalistisch/jüdisch sein. Vielleicht hat Netanjahus Allianz mit Regimen wie dem von Orbán aus strategischen Überlegungen begonnen, aber es endet in tiefer ideologischer Übereinstimmung. Jene Parteien, die am ehesten antisemitisch sind, sind heute besonders an einer Allianz mit Israel interessiert. Ich kann mir kaum einen zynischeren und ironischeren Twist der Geschichte vorstellen.

Sebastian Kurz bezieht gerne die Juden in den Wertebogen der europäischen Tradition mit ein. Es geht, sagt er, um das christlich-jüdische Erbe Europas.

Illouz: Die Allianz zwischen christlichen und jüdischen Politikern hat immer auch eine immigrationsfeindliche Tendenz. Man muss den muslimischen Eindringling an den Toren stoppen. Aus sehr unterschiedlichen Gründen verbünden sich Netanjahu und die Anti-Europäer zu einer Koalition gegen den Islam. Ich sage übrigens nicht, dass Araber und der Islam immer nur schwache und unschuldige Opfer dieser Allianz sind. Die Mehrheit der arabischen Welt, auch der Iran ist selbst tief antiliberal. Dieses Thema war vor der Corona-Krise da und wird uns auch nachher weiter beschäftigen.


Eva Illouz,
1961 in Fès in Marokko geboren, ist Professorin für Soziologie an der École des hautes études en sciences sociales EHESS in Paris und an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die Zeit reihte sie 2009 unter die zwölf Intellektuellen, die wahrscheinlich das Denken von morgen verändern werden. 2013 erhielt sie den Anneliese-Meyer-Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. 2018 wurde ihr der israelische EMET-Preis für Sozialwissenschaften zugesprochen. Derzeit hat sie die Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln inne. In ihrem jüngsten Buch „Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen“ (Suhrkamp) diskutierte sie, wie der Kapitalismus unser emotionales und romantisches Leben verändert hat


Termin:
Am 9. Juni um 18 Uhr nimmt Eva Illouz an einem virtuellen Live-Talk des Kreiskyforums teil: www.facebook.com/kreiskyforum


Zur Serie
Jede Woche schreiben oder sprechen hier Intellektuelle über die Pandemie. Bisher erschienen: Thomas Macho über „Ansteckendes Lachen“, Eva Horn über „Corona und die Ökokrise“, Alfred Noll über „Das Gesetz des Notstands“, Doron Rabinovicis Replik darauf, „Das Gerede von der Herde“, Helga Nowotny über „… die Chance, jetzt Dinge zu verändern“, Lukas Resetarits’ Einschätzung, dass sich ein Bundeskanzler „net wia a Rotzbua“ benehmen solle, Christoph Bartmann über das Homeoffice, Franzobel über unterschiedliche Aspekte der Krise und zuletzt Vea Kaiser über Covid-19 als Seuche der globalisierten Gesellschaft

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© 2018 Tessa Szyszkowitz