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Keep Covid and Carry On

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Noch immer sterben in Großbritannien täglich mehr Menschen an Covid-19 als in Österreich bisher insgesamt

BERICHT UND FOTO: TESSA SZYSZKOWITZ, LONDON
POLITIK, FALTER 19/20 VOM 06.05.2020

Sidsel Rostrup hat die Hoffnung längst aufgegeben, dass ihre Mitbewohner sich an ihre Vorstellungen von Social Distancing halten. Die Schauspielerin teilt Küche und Bad mit sechs Briten in einem Haus im Nordlondoner Highgate, in dem sie um 490 Pfund pro Monat ein Zimmer bewohnt. "Anfangs wollte ich strikte Corona-Maßnahmen einführen", sagt die 26-jährige Dänin, "das war nicht zu machen." Waren die anderen zu liberal, zu unbesorgt? "Ihnen war wohl einfach nicht bewusst, wie schnell sich das Virus ausbreitet."

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Je ärmer jemand ist, umso schwieriger ist es oft, sich physisch von anderen fernzuhalten. In Großbritannien sind soziale Unterschiede noch um einiges krasser als auf dem europäischen Kontinent: Hier ist die Wahrscheinlichkeit, dass man an Covid-19 stirbt, derzeit mindestens doppelt so hoch, wenn man arm ist. Nach Zahlen des britischen Büros für nationale Statistik gibt es in den ärmsten Teilen Englands 55 Coronavirus-Tote je 100.000 Menschen, verglichen mit 25 in den reichsten Regionen.

Während man in Österreich darauf achtet, ob nach der Lockerung der Maßnahmen eine zweite Covid-19-Welle kommt, ringt Großbritannien noch immer mit dem ersten Tsunami der Pandemie. Da Neuinfektionen wegen der Isolationsmaßnahmen abnehmen, besteht zwar erstmals die berechtigte Hoffnung, dass die Todesrate diese Woche ernsthaft zu sinken beginnt. Jeden Tag sterben aber immer noch mehr Menschen an dem Virus als in Österreich insgesamt. Offizielle Todeszahl vom 2. Mai: 621 im gesamten Vereinigten Königreich. Insgesamt hatte die Pandemie bis zum Wochenende schon 28.446 Briten dahingerafft.

Dafür gibt es viele Gründe. Der britische Premierminister Boris Johnson schwänzte in den ersten Wochen der Pandemie insgesamt fünf "Cobra"-Krisensitzungen. Statt aus der Lage in Asien und Europa schnell Lehren zu ziehen und mit Testen, Contact-Tracing und Isolationsmaßnahmen die sprunghafte Ausbreitung des Virus einzudämmen, ging Johnson noch Anfang März mit seiner damals schwangeren Freundin Carrie Symonds zu einem Rugby-Match mit 80.000 Zuschauern und schüttelte leutselig bei einem Spitalsbesuch die Hände von Covid-19-Patienten. Erst am 23. März verhängte er einen Lockdown. Da war er selbst schon infiziert.

Nicht nur in der Regierung herrschte Chaos. Zehn Jahre Sparpolitik unter den konservativen Tories haben die Strukturen der öffentlichen Krankenhäuser schwer geschwächt. Die Vorbereitung für Pandemien wurde sträflich vernachlässigt. In den Krankenhäusern fehlt es bis heute an der von der WHO geforderten Schutzausrüstung. In Intensivstationen werden Atemschutzmasken verwendet, deren Ablaufdatum überklebt wurde. Pfleger basteln Schürzen aus Müllsäcken. Über 100 Ärztinnen und Pfleger sind bereits an Covid-19 gestorben.

Insgesamt aber hat das staatliche Gesundheitssystem, der NHS, eine noch größere Katastrophe verhindert. In der Satireshow "Gogglebox" auf Channel 4 am 1. Mai hieß es: "Der NHS hat die Krise erfolgreich gemanagt - und zwar nicht wegen, sondern trotz der Regierungspolitik." Auch dem Premierminister haben NHS-Ärztinnen und -Pfleger das Leben gerettet. Nach einem Aufenthalt in der Intensivstation und der Geburt seines sechsten oder siebenten Kindes ist Boris Johnson jetzt endlich wieder im Amt. Aber Charisma und Redekunst, seine größten Talente, reichen für einen Staatsmann in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg nicht aus. Auch sein libertinärer Glaube an Freiheit und Marktregelung erwies sich in der Corona-Krise als verfehlt. Den Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen, den er antreten wollte, musste er erst einmal verschieben. Die Briten hätten ganz gerne vorher noch ein bisschen Leadership gesehen: Wann und wie wird in Großbritannien die Wirtschaft wieder angekurbelt?

Mitten im Tsunami von der Lockerung zu reden ist nicht einfach für den konservativen Premierminister, der gerade selbst eine Fast-Todeserfahrung durchgemacht hat. Ende dieser Woche will er einen Fahrplan vorlegen: Volksschulkinder könnten dann ab Juni wieder in die Schule. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz dürfte an Maskenpflicht gebunden werden -allerdings gibt es immer noch nicht genug Masken im Land, und die Regierung befürchtet, dass sie dann wieder in den Spitälern fehlen. Die sechstgrößte Industrienation der Welt hat Schwierigkeiten, das Pflegepersonal mit Schutzkleidung zu versorgen? Die bitteren Lehren aus dieser Pandemie werden Johnson noch verfolgen. Erstmals kann man weltweite Vergleiche ziehen, wie mit dieser Krise umgegangen wurde.

Die gravierenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie werden von den Brexit-Folgen ab Jänner 2021 noch verstärkt, wenn Johnson in Brüssel nicht um Verlängerung der Übergangsphase ansucht. Britannien hat die Wahl, es könnte noch ein bis zwei Jahre im Binnenmarkt der EU bleiben. Genau das will Boris Johnson aber vermeiden, da die Brexit-Ideologie der einzige Kitt ist, der sein Regierungsteam zusammenhält.

Sein Versprechen einer gloriosen Zukunft des "globalen Britannien" nach dem Brexit wird für die Briten nun noch gefährlicher. Die Globalisierung ist in Verruf geraten, damit ist auch der Finanzplatz London unter Verdacht. Für internationale Superreiche schwindet bereits die Anziehungskraft der Glitzermetropole. Früher investierten Oligarchen oder Ölprinzen gegen ein Jahresvisum gerne 2,3 Millionen Euro im Vereinigten Königreich. Jetzt sehen sie sich bereits woanders um. Denn Zugang zur EU bekommt man nach dem Brexit ab Jänner 2021 von London aus auch nicht mehr.

Die auf "Identitätsmanagement" spezialisierte Londoner Firma Henley &Partners hat einen neuen Trend ausgemacht: Ihre betuchten Kunden kaufen neuerdings gerne "pandemische Pässe". Neben der Schweiz gilt auch eine kleine Alpenrepublik als krisenfest: Eine schwammige Formulierung im österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetz erlaubt die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Ausländer, die sich um die Republik verdient gemacht haben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Kostenpunkt für einen österreichischen Pass laut Sunday Times: bis zu sieben Millionen Euro.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz