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„Historisch gesehen sind in Krisen of neue Realitäten entstanden“

Dieses Interview erschien am 27. April 2020 in profil. Über diesen Link können Sie das Heft kostenlos lesen: 

https://aboshop.vgn.at/profil/einzel-und-sonderhefte/digitalausgaben/

Die Historikerin und Pulizerpreisträgerin Anne Applebaum über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Demokratie, die Verlockungen des Autoritarismus und die erfreulichen Nebeneffekte eines langfristigen Lockdown.

 

Zur Person

Anne Applebaum, 55

Die amerikanische Historikerin und Journalistin hat für ihr Buch „Gulag“, in dem sie das sowjetische Gefangenenlagersystem unter Josef Stalin beschrieb, 2004 einen Pulitzer-Preis gewonnen. Neben ihren viel beachteten historischen Studien, darunter „Roter Hunger, Stalins Krieg gegen die Ukraine“ (2019) und „Der Eiserne Vorhang: die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956“ (2013), arbeitet sie als Journalistin für das US-Magazin „The Atlantic“ (https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/03/when-disease-comes-leaders-grab-more-power/608560/ )

Im Juli soll ihr neues Buch „The Twilight of Democracy: the Seductive Lure of Authoritarianism“ (in etwa: „Abenddämmerung der Demokratie: das verführerische Locken des Autoritarismus“) erscheinen, das sich mit den Hintermännern der zeitgenössischen autoritären Bewegungen, beschäftigt: Journalisten, Chefideologen, Spindoktoren und Propagandisten.

Derzeit beobachtet Applebaum die Welt von Polen aus, wo sie mit ihrem Mann, dem früheren polnischen Außenminister Radek Sikorksi, die Coronakrise zu überstehen hofft. profil erreichte sie, wie es sich im Zeitalter von Covid-19 gehört, in ihrem Homeoffice per Zoom.

profil: Mit der Corona-Pandemie erleben wir nicht nur eine medizinische Krise, wir beobachten vielerorts auch eine Krise der Demokratie – kann es sein, dass die Demokratie am Ende zu den Opfern des Virus zählen wird?

Applebaum: Wenn die Menschen Angst haben, tendieren sie dazu, ihren Führern zu folgen. Das war auch zu Beginn der Pandemie der Fall. Regierungen haben Maßnahmen verhängt, mit denen wir sie in normalen Zeiten nie davonkommen lassen würden. Wir waren bereit, das im Austausch für unsere Sicherheit hinzunehmen. Wir sehen aber auch einige Regierungen, die es damit übertreiben und für politische Zwecke benutzen – etwa, um mehr Macht anzuhäufen oder zu versuchen, an der Macht zu bleiben. Es wird viel davon abhängen, was in nächster Zeit passiert. Vergessen wir nicht: In ein paar Wochen oder Monaten könnte es zu einer Gegenreaktion kommen, weil die Leute den Lockdown in Frage stellen, ablehnen und mehr Freiheit verlangen.

profil: Ihr neues Buch, das im Juli erscheint, trägt den Titel „The Twilight of Democracy: the Seductive Lure of Authoritarianism“ – also in etwa: „Abenddämmerung der Demokratie: das verführerische Locken des Autoritarismus“. Hat das Corona-Virus diese Verlockung verstärkt?

Applebaum: Ja, aber die Faszination von autoritären Kräften wird vor allem dort stärker, wo der Staat versagt – in Polen, Italien, Spanien, auf dem Balkan, vielleicht auch in den USA und eventuell in Indien.

profil: Stimmt der Eindruck, dass die Pandemie gerade Demokratien besonders stark herausfordert und trifft?

Applebaum: Wir sollten nie vergessen: Demokratie ist immer fragil. Aber ich denke nicht, dass der wirkliche Unterschied zwischen Demokratien und Autokratien verläuft – sondern zwischen Ländern mit kompetenter und effizienter Verwaltung und anderen. Manche Demokratien wie Taiwan oder Südkorea funktionieren phantastisch. Dort gibt es die ganze Zeit scharfe, wütende demokratische Debatten, und trotzdem sind sie sehr effektiv dabei, die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Wenn Sie andererseits die Autokratien betrachten, werden sie welche finden, die es gut machen wie Singapur – und dann wieder andere, wo eventuell noch das totale Chaos ausbrechen wird, beispielsweise in Russland. Wo die Leute ihrer Regierungen trauen und bereit sind, ihre Vorschriften zu befolgen, wird es funktionieren; und umgekehrt auch dort, wo die Regierung effizient und organisiert ist.

profil: Eigentlich sind wir immer davon ausgegangen, dass die Demokratie das einzige System ist, in dem beide Voraussetzungen gegeben sind …

Applebaum: … und jetzt stellen wir fest, dass auch Gefahr aus dem Inneren der Demokratie drohen kann. Diese weltweite Pandemie lehrt uns, wie wichtig eine massive Demonstration von staatlichem Einsatz sein kann. Ich befürchte, dass einige unserer Demokratien sich dabei als nicht besonders effizient erweisen werden.

profil: Haben Sie schon eine Einschätzung, welche westlichen Staaten das sein könnten?

Applebaum: Es ist zu früh, um zu sagen, wer es in Europa gut macht und wer schlecht. In Deutschland sieht es beispielsweise gut aus: Vertrauen in das System, anständige Vorbereitung, effektive Organisation des Staats. Niemand will derzeit etwas von der AfD hören, aber alle hören auf Angela Merkel und die Wissenschaftler in ihrem Umfeld.

profil: Das Coronavirus hat also nicht nur negative Effekte auf Politik und Gesellschaft?

Applebaum: Richtig. Die Leute verstehen, dass wir es uns nicht leisten können, im Angesicht der weltweiten Pandemie politische Spiele zu spielen. In Demokratien, in denen Mainstream-Parteien, öffentlicher Rundfunk und nationale Gesundheitssysteme gut funktionieren, werden diese Institutionen durch die Krise gestärkt.

profil: Der EU wurde zu Beginn der Krise aber Untätigkeit vorgeworfen.

Applebaum: Die Kritik war anfangs nicht fair, weil die EU von den Mitgliedstaaten ja keine Kompetenzen für die Gesundheitsvorsorge bekommen hat. Jetzt aber wird viel davon abhängen, welche Maßnahmen die EU-Staaten gemeinsam in dem Bereich ergreifen, in dem die EU sehr wohl Kompetenzen hat: in der Wirtschaft. Der Test für die Euro-Zone wird sein, ob die EU eine Antwort auf die Wirtschaftskrise findet, die für alle hilfreich ist. Da geht es nicht nur um den Norden und den Süden. Vielleicht wird es nicht gehen, dass man sich die Schulden gemeinsam teilt, aber vielleicht gibt es noch andere Antworten. Die Euro-Zone kann nicht ohne sehr viel Kooperation erfolgreich sein. Auch die Art und Weise, wie internationaler Handel und Grenzen in Zukunft behandelt werden, wird die Zukunft der EU definieren.

profil: Grundsätzlich war es während der Krise im Westen bisher mit der internationalen Solidarität aber nicht weit her.

Applebaum: Ja, und wenn die EU und die USA nicht genug Hilfsbereitschaft zeigen, dann werden andere Länder ihren Platz einnehmen. China hat schon viel Engagement gezeigt, wenn es um Krisenhilfe ging. Ist China dabei eine effektivere Macht als Europa? China macht es jedenfalls besser als die Vereinigten Staaten. Gerade in Italien hat China die USA vorgeführt. Die Leute werden sich das zu Herzen nehmen: Amerika ist ein Desaster, China bietet Hilfe an. Vielleicht, werden sie denken, ist die westliche Allianz doch nicht, wie bisher gedacht, die logische Antwort? Der Test kommt in den nächsten Monaten.

profil: Eine Frage, die derzeit viel diskutiert wird, dreht sich darum, ob die Krise zu einer Rückkehr des „Starken Staats“ führen wird – oder hingegen zu einem weiteren Aufstieg des „Starken Mannes“.

Applebaum: Auch dabei gilt: Wir sind noch monatelang von endgültigen Schlussfolgerungen entfernt. Wir hatten noch keinen Wirtschaftskollaps. und werden erst sehen, wie Menschen und Institutionen darauf reagieren. Die Politik könnte sich danach ändern, abhängig von der Leistung der Politiker und Institutionen.

profil: Aber schon zuvor hatten die Machtpolitiker massiven Zulauf – nicht nur in ehemals kommunistischen Ländern, auch im Kernland des westlichen Kapitalismus, den USA. Warum?

Applebaum: Das ist menschlich. Es ist ein großer Fehler anzunehmen, dass nur ex-kommunistische Gesellschaften ein Problem mit der Demokratie haben. Ja, Polen und Ungarn haben autoritäre Parteien. Aber in den USA ist ein Teil der Republikanischen Partei anfällig, bei Ihnen in Österreich ist es die FPÖ.

profil: Tatsächlich wird in Österreich weniger über die Effizienz der zweifellos erfolgreichen Pandemie-Bekämpfung debattiert, sondern darüber, wie weit die Krisenmaßnahmen Bürgerrechte unterminieren. ÖVP-Bundeskanzlern Sebastian Kurz ist in den Umfragen knapp an der absoluten Mehrheit und spricht neuerdings von „neuer Normalität“.

Applebaum: Ich weiß nicht, was Kurz mit der „neuen Normalität“ meint. Doch es ist sicher der Job aller Journalisten, aufmerksam über ihre Regierungen zu wachen - und darauf zu achten, dass die Sonderrechte, die der Obrigkeit in der Krise zugestanden wurden, wieder zurückgenommen werden, sobald sie nicht mehr nötig sind. Aber historisch gesehen sind in Krisen oft neue Realitäten entstanden. In den USA wurde zum Beispiel im ersten Weltkrieg als Notstandsmaßnahme die Einkommenssteuer eingeführt. Die gibt es bis heute. Oder ein Beispiel aus England: Während die Syphilis im 19. Jahrhundert wütete, wurden Gesundheitskontrollen in Bordellen verpflichtend. Auch das erwies sich als eine Maßnahme, die auch ohne Krise im Normalfall sinnvoll ist. Was wir finden müssen, ist der Schlüssel zu Lösungen, wie wir politische Systeme reformieren und die Faszination des Autoritären entschärfen können.

profil: Derzeit sieht es aber in vielen Ländern eher danach aus, dass es weniger um sinnvolle Maßnahmen geht, sondern um ideologische und machtpolitische – in Polen zum Beispiel, wo Sie sich als Frau des früheren Außenminister Radek Sikorski gerade selbst in Isolation befinden. Beschleunigt die Corona-Krise den Weg in die Autokratie?

Applebaum: Wir haben in Polen eine sehr seltsame Situation: Eigentlich sind für den 10. Mai Präsidentschaftswahlen anberaumt, es ist aber ausgeschlossen, dass sie auch stattfinden werden. Die lokalen Regierungen, die normalerweise die Abwicklung übernehmen, haben sich geweigert, das zu tun. Eine Briefwahl lässt sich binnen so kurzer Zeit nicht organisieren. Aber mehr als das: 70 bis 80 Prozent der Leute sagen in Umfragen, dass sie ohnehin keine Wahlen wollen. Die Regierung könnte die Wahl laut Verfassung verschieben, wenn sie den Notstand ausruft. Das will sie aber nicht tun, weil sie fürchtet, dass sie verlieren wird, wenn es in drei oder vier Monaten eine Wirtschaftskrise gibt. Sie trifft ihre Entscheidung also nicht auf Basis dessen, was gut für das Land ist, sondern was gut für sie ist. Sie will an der Macht bleiben, koste es, was es wolle. Damit ist sie aber nicht die einzige Regierung.

profil: Wie steht es in Polen um das Vertrauen zur Regierung?

Applebaum: Die Bevölkerung beginnt, der Regierung zu misstrauen. Beispielsweise wird in Polen zu wenig getestet. Viele Leute glauben, dass die Regierung die wahren Zahlen von Covid-19-Opfern nicht nennen will, weil sie zu hoch sein könnten. In dieser Hinsicht ist Polen vielleicht ähnlich wie Ungarn.

profil: Ungarn hat im Gegensatz zu Polen den Notstand ausgerufen. Viktor Orbán kann das Land jetzt per Dekret so lange regieren, wie er will. Ist das ein entscheidender Unterschied?

Applebaum: Polen und Ungarn sind sehr unterschiedliche Fälle. In Polen hat die Regierung Angst, die Wahlen zu verlieren, in Ungarn muss sich Orbán darum keine Sorgen machen. Ungarn ist ein seltsamer Fall für unsere Corona-Debatte, weil die Regierung dort schon vor der Krise fast alles machen konnte, was sie wollte. Orbán hat schon zuvor das Parlament, die Gerichte und die Medien als effektive Kontrolle der Institutionen demontiert. Es gibt auch in normalen Zeiten keine „Checks and Balances“, daher ist das, was sich jetzt ändert, nur von symbolischer Bedeutung. Die Diktatur ist in Ungarn längst Realität.

profil: Kann es umgekehrt auch sein, dass in anderen Ländern statt dem „Starken Mann“ der „Starke Staat“ zurückkehrt – etwa in den USA oder Großbritannien?

Applebaum: In dieser Hinsicht könnte die Krise ein echter Gamechanger sein. Für gewisse Dinge brauchen wir einfach einen starken Staat. Die USA und Großbritannien sind jene beiden Länder, in denen das Gesundheitssystem am meisten ausgeblutet wurde. In den USA war es auf nationaler Ebene ja nie vorhanden, in Großbritannien wurde ihm viel Geld weggenommen. Eine der Lehren aus dieser Krise wird es sein, dass Gesundheitsversorgung jeden betrifft. Du kannst so wohlhabend sein, dass Du dir das leisten kannst – wenn es dein Busfahrer oder der Lehrer deines Kindes nicht kann, dann betrifft es auch dich. Wenn in den USA Joe Biden gewinnt, wird es dort ein öffentliches Gesundheitssystem geben.

profil: In Großbritannien gibt es jetzt fast einen Kult um das Nationale Gesundheitssystem NHS.

Applebaum: Und zwar mit den vielen Immigranten, die dort tätig sind. Johnson hat in seiner Botschaft, als er aus dem Krankenhaus kam, besonders seinen Dank an einen Pfleger namens Luis aus Portugal hervorgehoben. Im Dezember hat sich die Regierung von Boris Johnson noch sehr populistisch gegeben: Keine Immigration, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte zurechtgestutzt werden und so weiter. Das hat sich komplett gedreht.

profil: Gleichzeitig wird die Regierung scharf dafür kritisiert, zu langsam auf die Krise reagiert zu haben – nicht nur durch die öffentlich-rechtliche BBC, sondern auch von rechtslastigen Blättern wie dem Daily Telegraph, die während des Brexit-Prozesses noch voll des Lobes für Boris Johnson waren.

Applebaum: Es ist offenkundig, dass die Briten im Februar aus vielerlei Gründen langsam waren. Auch wegen der wissenschaftlichen Ratschläge, die sie bekamen. Britische Nationalisten sagen instinktiv: Wir machen nicht, was alle anderen machen. Dieser Eigensinn wurde von Johnson in einer Rede zum Ausdruck gebracht, in der er sagte: Die Briten werden es nicht akzeptieren, eingesperrt zu werden. Es hat sich herausgestellt, dass das nicht stimmt. Als er selbst krank wurde, haben die Leute mit viel Sympathie reagiert. Aber in drei Monaten, wenn die Leute arbeitslos werden, könnte es eine Gegenreaktion gegen ihn geben. Ich glaube, wir können einfach nicht vorhersagen, was passieren wird.

profil: Sie haben nicht nur mehrere preisgekrönte politische Bücher geschrieben, sondern auch ein Kochbuch über die polnische Küche. Jetzt, wo Sie in Polen in der Corona-Isolation festsitzen: Arbeiten Sie an einem zweiten Teil?

Applebaum: Ich bin nicht nur in Polen, ich bin auch noch auf dem Land! Bisher wurden in polnische Supermärkten Produkte aus der ganzen Welt importiert. Jetzt aber sind wir wieder vermehrt auf das angewiesen, was der Boden hergibt. Ich koche also Krautsuppe. Die russische Variante war gestern dran, eine sogenannte Stschi. Und zumindest ein Gutes könnte es haben, wenn der Lockdown noch lange dauert: Dann bekommen wir Sommergemüse auf den Teller.

Interview: Martin Staudinger, Tessa Szyszkowitz

 

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz