Keir Starmer löst Jeremy Corbyn als Vorsitzenden der Labour-Partei in Großbritannien ab. Der besonnene Jurist gilt als gute Wahl in Zeiten der Coronakrise. Kann der rationale Radikale dem clownesken Premierminister Boris Johnson die Show stehlen?
Der neue Labour-Leader ist ein Sir. Nicht nur im übertragenden Sinne. Keir Starmer fällt zwar stets als zuvorkommender und höflicher Gesprächspartner auf. Der ehemalige Direktor der Staatsanwaltschaft von England und Wales wurde aber außerdem ganz offiziell 2014 von der Queen für seine Dienste im Strafrecht zum Ritter geschlagen und darf sich daher Sir Keir nennen. Von diesem Recht macht der Jurist aber nur ungern Gebrauch.
Für einen Labour-Leader ziemt es sich vielleicht auch nicht, als Sir durch die Straßen zu ziehen. Vor allem nicht, wenn man gerade dem altlinken Radfahrer Jeremy Corbyn nachfolgt, der am 4. April die Führung der Labour-Party an Starmer abtritt.
Nach der Wahlniederlage am 12. Dezember 2019, als der konservative Premierminister Boris Johnson eine große Mehrheit von 80 Abgeordneten eingefahren hatte, war Corbyn zurückgetreten. Seitdem hatten sich drei Kandidaten um den Job gestritten: Die Corbyn-nahe Rebecca Long-Bailey aus Manchester, Lisa Nandy, Abgeordnete aus Nordengland, und eben Keir Starmer.
Keine Chance für Frauen an der Spitze von Labour
Am Ende gewann doch wieder ein Mann und ein Londoner die Schlacht. Frauen haben bisher noch nie den Topjob in der traditionellen Arbeiterpartei innegehabt. In Zeiten von Coronakrise, Brexitchaos und Johnson-Euphorie ist allerdings ohnehin die Frage, die "Times"-Podcaster Matt Chorley spöttisch formuliert: "Wen interessiert es schon, wer jetzt die Opposition anführt?"
Derzeit geht es in Großbritannien um einen nationalen Schulterschluss aller politischer Kräfte, um die Covid-19-Epidemie in den Griff zu bekommen. Das ist der konservativen Regierung bisher nicht gut geglückt. Täglich sterben derzeit bis zu 600 Menschen an dem Virus, insgesamt schon über 4.000 Menschen im Vereinigten Königreich.
Der immer noch fiebrige Boris Johnson forderte vom Krankenbett in Downing Street am Wochenende alle Parteien zur Zusammenarbeit auf. In diesem Klima ist Keir Starmer offenbar nach Meinung einer Mehrheit der Labour-Mitglieder der richtige Parteichef.
Starmer ist links, aber besonnen
Seit 2015 ist der proeuropäische Londoner Keir Starmer Abgeordneter im Unterhaus des Bezirks Holborn und St Pancras. Davor war er als Menschenrechtsanwalt und als Direktor der Staatsanwaltschaft tätig. Der 57jährige Familienvater strahlt Besonnenheit aus, was in der von ideologischen Differenzen gebeutelten Partei als Vorteil gilt.
Auf den strahlenden Vertreter des "Dritten Weges", Tony Blair, war 2008 der glücklose Gordon Brown und dann 2010 der ebenfalls wenig erfolgreiche Ed Miliband gefolgt. Nach dessen Wahlniederlage kam 2015 der Außenseiter Jeremy Corbyn überraschend zum Zug. Sein Ruf nach Re-Nationalisierung von Post und Bahn, nach Arbeiterbeteiligung in Betrieben und höheren Steuern für Betuchte fand im Vereinigten Königreich Gehör. Die Finanzkrise 2008 und das Sparprogramm der Tory-Regierung unter David Cameron hatten gerade die Ärmeren schwer getroffen.
Tony Blairs Glanz war seit seiner Begeisterung für den US-Militärschlag im Irak 2003 längst verblasst. Da wirkte der grauhaarige Corbyn wie Bernie Sanders in den USA kurzfristig wie eine Anti-These zu den sonst so polierten Establishment-Politikern. Elektrisiert reagierten vor allem junge Wähler, die oft über die Grassroots-Bewegung Momentum in Scharen zur Labour-Party geströmt waren und den 70jährigen Hoffnungsträger auf dem Musikfestival Glastonbury mit glänzenden Augen und dem Chorgesang "Oh, Jeremy Corbyn" begrüßten.
Hexenjagd gegen Corbyn-Gegner
Heute ist die Labour-Party mit knapp 500.000 Mitgliedern die größte europäische Volkspartei. Jeremy Corbyn aber scheiterte nicht nur an den übersteigerten Hoffnungen seiner Anhänger. Sowohl inhaltlich wie organisatorisch stellte sich schnell heraus, dass es ihm eklatant an Führungsqualitäten mangelte. Eine altlinke Hardliner-Clique um den Parteichef drückte der parteiinternen Opposition die Luft ab. Eine feindliche Atmosphäre gegen Nicht-Corbynisten sowohl in Parteigremien wie Onlineforen artete in Hexenjagden gegen "blairistische Zentristen" aus.
Inhaltlich erwies Corbyn sich als dramatisch unflexibel. Dank seiner EU-Skepsis verloren die Proeuropäer erst das Brexit-Referendum 2016. Corbyn hatte sich und die Parteimaschine nicht mit vollem Einsatz hinter die "Remain"-Kampagne gestellt. Danach konnte er dem zunehmend harten, antieuropäischen Kurs der Tory-Regierung keine proeuropäische Kraft mehr entgegensetzen.
So verlor Großbritannien nicht nur die wirtschaftlich und politisch lukrative Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Corbyn ermöglichte Boris Johnson auch politisch den Durchmarsch in die Downing Street.
Corbyn scheiterte auch am Antisemitismus-Problem bei Labour
Hinzu kam die Auseinandersetzung um Antisemitismus in der Labour-Party. Anfangs wurde der Disput als Verschwörung der Blairisten gegen Corbyns Führung abgetan. Da Corbyns Führungstruppe antisemitischen Beleidigungen innerhalb der Partei nur unentschlossen entgegentrat, wurde der antisemitische Lärm, der sich online und persönlich über jüdische Labour-Abgeordnete ergoss, immer lauter.
"Ich kenne Corbyn seit 1982 und ich habe ihn immer verteidigt, wenn Leute ihn als Antisemiten bezeichneten", sagt Margaret Hodge zu Cicero. Die atheistische Labour-Abgeordnete stammt aus einer jüdischen Familie und empfand die Atmosphäre in ihrer Partei in den Corbyn-Jahren zunehmend als unerträglich: "Ich habe meine Meinung geändert, als er den britischen Juden "den Sinn für englische Ironie" absprach." Dies hatte Corbyn 2013 bei einer Diskussion gesagt. Hodge ist heute die einzige jüdische Labour-Abgeordnete, die noch in der Partei geblieben ist. “Ich habe nie daran gedacht auszutreten, ich bin schließlich länger als Corbyn in der Partei”, sagt die 75jährige Politikerin, die gegen den Willen der Corbyn-Aktivisten im Dezember in ihrem Wahlkreis Barking noch einmal bestätigt wurde. Sie blickt jetzt nach vorne und erhofft sich vom neuen Parteiführer klare Maßnahmen, damit mit Corbyn auch der Antisemitismus entsorgt wird.
Als Schattenminister für Brexit unter Corbyn hat Keir Starmer drei Jahre lang bewiesen, dass er gleichzeitig ausgleichen und durchhalten kann. Der Jurist wird auf erbitterten Widerstand in den Führungsgremien treffen und wird einige von Corbyns Mitstreitern resolut beiseite schieben müssen, wenn er frischen Wind in die Parteigremien bringen will.
Als Stellvertreterin setzte sich Angela Reyner durch, die Starmer bei dem Versuch unterstützen wird, linke Politik mit mehr Offenheit zu verbinden als es Corbyns Führungsteam geschafft hat. "Mit Starmer und Reyner haben wir die Chance, die Partei zu einen", freut sich der Abgeordnete David Lammy.
Laura Parker, bis Dezember 2019 nationale Koordinatorin der Grassroots-Bewegung Momentum, hat Keir Starmer deshalb unterstützt, weil sie ihn für den Politiker mit dem breitesten Spektrum, dem klarsten Programm und der größten Durchsetzungsfähigkeit hält. Er sei Proeuropäer und jemand, der klar gegen Antisemitismus Stellung bezogen habe. Für Parker geht es aber vor allem um das linke Parteiprogramm, das Corbyn entwickelt hat: "Alle drei Kandidaten für die Corbyn-Nachfolge stammten aus dem linken Flügel. Damit ist gesichert, dass Labour eine linke Partei bleibt."
Überholt Boris Johnson die Opposition links?
Genau das wird aber paradoxerweise ein Problem werden: Boris Johnson hat zwar die Tories im Zuge des Brexitprozesses an den rechten Rand des exzentrischen, xenophoben und neokonservativen Spektrums geführt, bei dem die transatlantischen Beziehungen zu Donald Trumps Weißem Haus mehr zählen als Arbeiterrechte und Umweltstandards der EU. Seinen Wahlsieg verdankte Johnson aber auch den Labour-Wählern im Norden Englands, die ihm die Umsetzung des Brexit eher zutrauten als der angestammten Partei.
Um diese Wähler bei der Stange zu halten, hat Boris Johnson versprochen, die Sparpolitik seiner Vorgänger zu kippen. Im Zuge der Coronakrise sind inzwischen riesige staatliche Stützpakete bis hin zur Nationalisierung der bankrotten Zug- und Fluglinien wenn nicht schon beschlossen, so doch angedacht. Was bleibt da an inhaltlichen Forderungen für eine Labour-Opposition übrig, wenn die Regierung sie links überholt?
Keir Starmer hat sich in vielen Auftritten vor Labourmitgliedern – zuletzt nur noch virtuell – dafür ausgesprochen, in das Gesundheitssystem NHS zu investieren, die Steuern für die Reichsten zu erhöhen und die Uni-Gebühren abzuschaffen. Er zeigt sich damit als klassischer Labour-Mann. Für die harte Linke ist er dennoch ein Softie. Das progressive Magazin "New Statesman" nennt ihn den "vernünftigen Radikalen".
In seiner online verbreiteten Antrittsrede am Samstag Vormittag sagte er in Bezug auf die Coronakrise: "Unter meiner Führung werden wir konstruktiv mit der Regierung zusammenarbeiten. Wenn wir die Krise überstanden haben, können wir nicht zu Business as usual zurückkehren Das Virus hat die Fragilität unserer Gesellschaft deutlich gemacht.” Schöne Worte. Doch in der britischen Politik steht und fällt ein Politiker letztlich mit der Performance bei den Prime Minister’s Questions jeden Mittwoch im Unterhaus. In der wöchentlichen Fragestunde liefern sich Premierminister und Oppositionsführer ein Wortgefecht, das bei zwei Kontrahenten mit feiner rhetorischer Klinge zu bester Unterhaltung führen kann. Tiefpunkt dieses Austauschs war in den vergangenen Jahren die Paarung Jeremy Corbyn gegen Theresa May. Ob der trockene Keir Starmer den sprudeligen Boris Johnson auf dem Schlachtfeld der Pointen besiegen kann, wird sich nach den verlängerten Osterferien des Parlaments am 22. April erstmals zeigen.