Boris Johnson erweist sich in Zeiten der Coronavirus-Pandemie als wankelmütiger Regierungschef. Fehlt dem Churchill-Fan am Ende das Zeug zum Staatsmann?
Als Boris Johnson am 13. Dezember 2019 als der große Sieger aus den nationalen Parlamentswahlen hervorgegangen war, schien der 54-jährige konservative Politiker auf Jahre hinaus unschlagbar. Eine Mehrheit von achtzig Konservativen im Unterhaus gab ihm freie Hand, das Vereinigte Königreich nach seinem Willen zu regieren.
Der leidige Brexit war damit am 31. Januar 2020 ausgemachte Sache; sein Chefverhandler David Frost sollte den mühsamen Rest bis Ende der Übergangsfrist im Dezember 2020 mit der EU aushandeln. Der Premierminister plante, sich von Downing Street ab und zu in launigen Videos an sein Volk zu wenden.
Ein Traumszenario wurde zerstört
An seiner Seite eine neue Frau, die 32-jährige Politikberaterin Carrie Symonds. Heirat und Baby waren bereits in die Wege geleitet. Vielleicht wäre sich für den Hobbyhistoriker nebenher noch die eine oder andere Biografie ausgegangen. Dann aber wurde Boris Johnsons Traumszenario genauso wie der Rest der Welt innerhalb weniger Wochen vom Coronavirus angegriffen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Wochenlang schien der britische Premierminister nicht wahrhaben zu wollen, dass Covid-19 auch das Leben auf der britischen Insel fundamental verändern würde. Eher halbherzig hatte der Regierungschef in täglichen Briefings dazu aufgerufen, sich voneinander fern zu halten. Dann aber nutzten am Wochenende tausende Briten das sonnige Frühlingswetter für einen Tagesausflug in die englischen Seebäder oder Picknicks in Londoner Parks in der irrigen Annahme, dass ihr Verhalten keine Auswirkungen auf die Epidemie haben würde.
Johnson befasst sich ungern mit Fakten
Da konnte auch Boris Johnson nicht mehr anders. Am Montag Abend, den 23. März, verhängte der Premierminister eine Ausgangsperre, die auch von der Metropolitan Police kontrolliert werden soll: „Das Land geht durch die schlimmste Krise seit Jahrzehnten”, sagte Johnson mit einer Gravitas, die den Gegensatz zu seinen sonst so verschmitzten Auftritten unterstrich.
Ein paar Tage vorher hatte er noch zu Protokoll gegeben: „Wenn wir alle zusammenhalten, dann kann der Coronavirus einpacken.” Seit Dienstag sind alle Bars, Restaurants und Geschäfte bis auf Apotheken und Lebensmittelläden geschlossen. Warum er so lange gewartet hat? Johnson befasst sich ungern mit Fakten, Zahlen und Details. Er hat die Gefahr der unsichtbaren Krankheit schlicht unterschätzt – auch deshalb, weil er als Inselbewohner einem insularen Wunschdenken anhängt.
Winston Churchill als schlechter Ratgeber
Da sein politisches Denken mit Winston Churchill anfängt und aufhört, fokussierte sich auch sein Virus-Abwehrmechanismus intuitiv auf die völlig falsche Idee, dass man dem Virus mit Stärke zu begegnen hätte. Anders aber als im Blitzkrieg gegen die Nazis 1941, als Winston Churchill die Bevölkerung zum Durchhalten aufrief, geht es in Zeiten von Covid-19 darum, sich voreinander zu schützen. Es gibt keinen Außenfeind, jeder Mensch gefährdet den nächsten.
Als liberaler Brite widerstrebte es Johnson außerdem zutiefst, tiefe Einschnitte in die individuelle Freiheit der Briten zu verordnen. Das ist immer noch so. Am Mittwoch wurde weiterhin auf Baustellen gearbeitet. Auch in den reduziert verkehrenden Ubahnen in London standen Leute eng aneinander gedrängt, um sich an ihre Arbeitsplätze zu begeben. Jene Arbeitnehmer ohne fixe Anstellung fürchten sich besonders vor einer monatelangen Quarantäne. Die Finanzspitze von 363 Milliarden Euro, die vorige Woche verkündet wurde, schützte erst einmal Betriebe und Angestellte. Selbständigen soll jetzt aber auch geholfen werden.
363 Milliarden Euro sollen die Wirtschaft schützen
Auch deshalb zögerte Boris Johnson, das Land zuzusperren: Er wollte die Wirtschaft schützen. In Großbritannien, zumal in konservativen Kreisen, zählt diese eventuell mehr als die allgemeine Volksgesundheit. In den vergangenen zehn Jahren haben sukzessive Tory-Regierungen Milliarden im öffentlichen Gesundheitssystem eingespart. Das rächt sich jetzt.
Es werden zwar pensionierte Ärzte einberufen, um mit dem Anstieg an Covic-19-Patienten fertigzuwerden. Es reicht aber nicht, um den Brexit-bedingten Ausfall an Pflegepersonal aus den EU-Mitgliedstaaten wettzumachen. Obendrein sind die Spitäler schlecht ausgerüstet: Es gibt viel zu wenig Intensivbetten mit Sauerstoff-Geräten und das Personal ist bisher nicht mit der von der Weltgesundheitsorganisation WHO geforderten Schutzkleidung ausgestattet worden.
„Herdenimmunität” als fatale Antwort auf das Virus
Außerdem gibt es bei Weitem nicht genug Tests für Covid-19. Bei den Prime Ministers Qustions am Mittwoch im Unterhaus zitierte Labour-Chef Jeremy Corbyn aus einer geleakten E-mail von Boris Johnson, der vor drei Tagen Forschungsinstitute um Test-Kits gebeten hatte. „Warum wurde das nicht schon vor Wochen getan?”, fragte Corbyn. Der Oppositionsführer hat seine Fragen zum letzten Mal gestellt.
Wenn das Parlament aus den verlängerten Osterferien zurückkehrt, gibt es einen neuen Labour-Chef, vermutlich Keir Starmer. Die Coronakrise verschärft hat bisher weniger die Opposition als ein interner Richtungsstreit in Downing Street. Nach Recherchen von Buzzfeed und der Sunday Times wurde die Coronakrise auch deshalb so schlecht gemanagt, weil Chefberater Dominic Cummings, Johnsons Rasputin in Downing Street, bis zum 12. März geglaubt hatte, das Virus am besten mit „Herdenimmunität” bekämpfen zu können.
Keine Kapazitäten für Verhandlungen mit der EU
Sobald eine Mehrheit der Bevölkerung angesteckt gewesen wäre, hätte die darauf folgende Immunität von alleine zum Abflachen der Infiziertenkurve geführt. Diese Theorie gefiel Boris Johnson gut. Erst eine Studie des „Imperial College” habe Cummings und dann nach Tagen auch endlich Johnson umgestimmt. Darin hatten Virologen davor gewarnt, dass eine ungehinderte Ausbreitung bis zu 250.000 Opfer fordern könnte.
Was inmitten der Coronakrise in Downing Street jetzt auch noch entschieden werden muss, ist das Ansuchen der britischen Regierung um Verlängerung der Übergangsphase um ein bis zwei Jahre in Brüssel. Auf beiden Seiten des Kanals ist für Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU derzeit keine Kapazität vorhanden, um bis Juli 2020 ein kompliziertes und umfassendes Freihandelsabkommen auszuhandeln.
Brexit-Millenarianismus
Verlängert Johnson, dann kann das Vereinigte Königreich noch weiter im EU-Binnenmarkt bleiben, was für die ohne angeschlagene britische Wirtschaft hilfreich wäre. Die Briten müssten dann aber auch noch weiter Beitragszahlungen an Brüssel liefern – für Johnsons harte Brexitiere ein Sündenfall. „Trotz der dramatischen Umstände, die förmlich nach gesundem Menschenverstand und verantwortlicher Führung schreien, sind Teile der regierenden konservativen Partei von einem Geist erfasst, die ich Brexit-Millenarianismus nennen würde”, schreibt Tony Barber in der Financial Times.
Er meint damit die Jünger der Brexit-Sekte, die nach dem Austritt aus der EU eine fundamentale Transformation der Gesellschaft erwarten und den endgültigen Brexit deshalb keinesfalls weiter verzögern wollen. Der ehemalige Brexitminister David Davis sieht in der Coronakrise sogar einen Vorteil: „Nachdem es jetzt weniger grenzüberschreitenden Verkehr gibt, werden die Zollbehörden das locker schaffen.”
Die Covid-19-Todesrate steigt schneller als erwartet
Inzwischen grassiert die Krankheit im Vereinigten Königreich und macht auch an den Toren der Paläste nicht halt. Am Mittwoch wurde der 71jährige Thronfolger Prinz Charles positiv auf Covid-19 getestet. Die Covid-19-Todesrrate steigt in Großbritannien und vor allem in der Neunmillionenmetropole London schneller als in anderen europäischen Ländern. Hatte Deutschland am 26. März 181 Todesfälle zu beklagen, gab es im Vereinigten Königreich, das mit 66 Millionen eine kleinere Bevölkerungszahl hat, am Donnerstag vormittag bereits 465 Opfer.
Mit der Panik steigt auch die Kritik an Boris Johnson. “Die Regierung hat der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit gesagt”, kritisiert Rory Stewart, ehemaliger Tory, der 2019 aus der konservativen Partei ausgeschlossen wurde, weil er den Brexitkurs Johnsons kritisiert hatte. Der neue Finanzminister Rishi Sunak, der in den vergangenen Tagen mit Wirtschaftskompetenz gepunktet hat, wird von manchen bereits unter dem Hashtag #RishiforPM als potentieller Nachfolger zu Boris Johnson ins Spiel gebracht. Ein ehemaliger konservativer Transportminister, George Freeman, ruft gleich nach einer Regierung der nationalen Einheit: “Eine Covid-Koalition könnte unvermeidlich werden.”
Lisa Nandy, ein der drei Kandidaten für die Nachfolge von Jeremy Corbyn an der Spitze der oppositionellen Labour-Party, scheint aber wenig Lust auf eine Notstandskoalition zu verspüren. Nandy hält es für sinnvoller, Staatsmänner wie den ehemaligen Labour-Premier Gordon Brown in die Cobra-Krisensitzungen der Regierung einzubinden: „Wir brauchen eine nationale Cobra”, schreibt sie in einem Brief an Labour-Mitglieder, „Wir müssen das Vakuum an der Führungspitze füllen”.