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Wie Boris Johnson das Virus verschleppt

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Boris Johnsons Strategie, „Herdenimmunität” durch Massenerkrankung zu erreichen, war ein Schuss ins Knie und wurde korrigiert. Doch die Briten haben wertvolle Zeit bei der Bekämpfung der Ausbreitung verloren. Der Hauptstadt London droht eine Corona-Katastrophe.

Fast lautlos mixt die Barkeeperin drei Gin & Tonics für Gäste, die in der Parlamentsbar mit Blick auf die Themse sitzen und leise miteinander reden. Es ist vier Uhr nachmittags. Im House of Lords und im House of Commons herrscht Business as Usual. Fast.

„Ein bisschen stiller als sonst ist es schon”, meint der Kellner, der den Afternoon Tea in den feinen Tassen des Westminster-Palastes serviert. Dazu gibt es Scones mit Clotted Cream und Marmelade. Baron Lea of Crondall schmiert sich engagiert sein Brötchen. Der Rahmball aus Clotted Cream ist hart und droht vom Teller zu springen. „Sie meinen, ich muss in Selbstisolation?”, meint David Lea leicht amüsiert.

Der Vorteil des Virus

Der ehemalige Gewerkschafter und Labour-Politiker wurde vor 21 Jahren zum Lord auf Lebenszeit ernannt. Seit 1958 muss man nicht mehr blaues Blut haben, um in die obere Kammer des britischen Parlaments einziehen zu können. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten im House of Lords, das im Gegensatz zum Unterhaus bloß beratende Funktion hat, ist 70. Lord Lea ist 82.

 

Vorsicht im Angesicht von Covid-19 hält er für etwa so sinnvoll wie den Brexit: „Der Vorteil des Coronavirus: Vielleicht schützt er Boris Johnson vor Gesichtsverlust, und der Premierminister kann in Brüssel um eine Verlängerung der Übergangsphase um mindestens ein Jahr ansuchen.”

Die Regierung ist in der Realität angekommen

Eine Verschiebung des endgültigen Brexit – am 31. Dezember 2020 will das Vereinigte Königreich aus EU-Binnenmarkt und EU-Zollunion mit oder ohne Abkommen austreten – wird derzeit offiziell überhaupt nicht diskutiert. Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU gibt es allerdings auch nicht mehr. EU-Oberverhandler Michel Barnier wurde bereits positiv auf Covid-19 getestet.

Das Coronavirus hat allen Reisen zwischen London und Brüssel ein abruptes Ende beschert. Langsam, aber sicher ist nun auch die britische Regierung in der Realität angekommen. Während andere europäische Staaten energische Maßnahmen ergriffen, ließ man in Downing Street Wochen verstreichen, bevor der Ernst der Lage erkannt wurde.

„Herdenimmunität”

Boris Johnson und sein Expertenteam folgten anfangs ihrer eigenen Logik: Das Coronavirus sollte nicht gestoppt werden, sondern sich frei ausbreiten können. Sobald etwa 60 Prozent der 66 Millionen Briten angesteckt gewesen wären, hätte Massen-Immunität das Virus gekillt: „Herdenimmunität” hieß das im Fachjargon.

Diese erste Reaktion erwies sich als Schuss ins Knie. Während Boris Johnson noch mit seiner schwangeren Freundin Carrie Symonds ein Rugby-Match mit 80.000 Fans besuchte, räumten besorgte Briten bereits die Supermarktregale leer. Das Virologenteam des Imperial College präsentierte dann am 16. März eine Studie, die zum Umdenken führte.

6,6 Intensivstationsbetten für 100.000 Patienten

Sie zeigte ganz klar, was passierte, wenn man keine Maßnahmen ergriff: eine Massenepidemie mit bis zu 250.000 Toten. Selbst wenn nur ein kleiner Prozentsatz von hauptsächlich älteren und gebrechlichen Patienten auf die Intensivstationen eingeliefert werden müssen, ist eines völlig klar: Die britischen Krankenhäuser sind nach zehn Jahren konservativer Sparpolitik und einem brexitbedingten Exodus von Pflegepersonal für eine Epidemie nicht gerüstet.

Im internationalen Vergleich von verfügbaren Betten auf Intensivstationen schneiden die Briten ganz schlecht ab: Italien hat 12,5 Betten pro 100.000 Menschen und wird der Seuche nicht Herr. Großbritannien hat nach einer Statistik der Financial Times nur die Hälfte: 6,6 Intensivstationsbetten für 100.000 Patienten.

Die Queen flieht nach Windsor

Am 17. März kam dann die politische Kehrtwende. Seit Chefberater Dominic Cummings Boris Johnsons Politik managt, werden politische Inhalte stets nur noch in drei Worte verpackt: Auf „Take back control” (2016) folgte „Get Brexit Done” (2019) und jetzt, im Zeitalter der Corona-Chroniken 2020: „Whatever It Takes”. Der Slogan „Was immer notwendig ist” heißt im Klartext: Die britische Regierung wird die Bevölkerung in Selbst-Isolation schicken, das wurde im Laufe der Woche täglich deutlicher. Ab Freitagnachmittag werden nun auch die Schulen geschlossen.

Hochzeiten dürfen nur noch mit höchstens fünf Menschen stattfinden: Braut, Bräutigam, Priester, zwei Zeugen. Queen Elizabeth II. hat sich mit Prinz Philipp nach Windsor zurückgezogen. Boris Johnson und sein neuer Schatzkanzler Rishi Sunak haben außerdem weitreichende Hilfsmaßnahmen für Business und Bevölkerung angekündigt. Ein Paket von Krediten in der Höhe von 380 Milliarden Euro soll vor Bankrott retten.

Drastische Maßnahmen sind nicht auszuschließen

Als Boris Johnson am Mittwoch im House of Commons die wöchentlichen Prime Minister’s Questions beantwortete, saßen die Minister und Abgeordneten auf ihren grünen Bänken schon einen Meter von einander entfernt. Es ist nicht auszuschließen, dass noch drastischere Maßnahmen ergriffen werden, um die Briten in häusliche Isolation zu zwingen.

Die Regierung hat am Donnerstag einen Gesetzesvorschlag vorgelegt. In der „Coronavirus Bill” sind Durchgriffsrechte vorgesehen. Kranke können nach dem 329 Seiten starken Dokument zum Test gezwungen, verhaftet und in Isolation gezwungen werden – andernfalls droht eine Strafe von 1000 Pfund. Das Parlament muss dem Gesetz noch zustimmen.

Johnson liest nicht gerne Statistiken

Für die Volksgesundheit könnte es sich in den kommenden Wochen verheerend auswirken, dass man vor allem in der Neunmillionenstadt London viel Zeit verloren hat, die Ausbreitung zu stoppen. Da kaum getestet wird, sind die verfügbaren Zahlen fragwürdig, aber allein die offizielle Statistik ist beeindruckend: Der Sprung von 33 auf 104 Tote am Mittwoch schockte die Bevölkerung. Dutzende sterben jetzt täglich an Covid-19. Aktuell liegen die offiziellen Zahlen bei 144 Toten. Warum die britische Regierung so lange zuwartete?

Premierminister Boris Johnson liest nicht gerne Statistiken, das ist bekannt, er hält sich nicht gerne mit Details auf und ist, wie seine Schwester Rachel im Cicero-Interview sagte, eben „ein Optimist”. Die Briten sind zudem kulturtheoretisch gesehen eine äußerst liberale Gesellschaft. Man lässt sich nicht gerne sagen, wie man sein Leben zu führen hat. Dank des zögerlichen Informationsprozesses wurde lange nicht klar, dass es sich bei dem neuen Virus nicht um einen zweiten Blitzkrieg handelt.

Der Slogan des Zweiten Weltkriegs

„Keep Calm and Carry On” hieß der Slogan im Zweiten Weltkrieg, als sich die zivile Bevölkerung mit Gelassenheit und Standfestigkeit gegen den Angriff der Nazis auf die britische Insel wehrte. Für viele Briten galt dies bis Mitte dieser Woche auch gegenüber dem Coronavirus: Man war stolz darauf, im Pub auf ein Pint zu gehen und dem Virus zu trotzen.

„Keep Calm and Stay at Home” wurde als Schwäche verstanden. Außerdem ist das Vereinigte Königreich seit Empire-Zeiten eine Handelsnation, in der die Wirtschaft eine übergeordnete Rolle spielt. Die Regierung hoffte entgegen der Weltentwicklung, Schulen, Theater und Geschäfte nicht schließen und Flüge, Konferenzen und Sportevents nicht absagen zu müssen, um der britischen Wirtschaft nicht allzu sehr zu schaden.

Mehr Volksberuhigung als wirtschaftliche Anylse

Mitte der Woche aber war klar: Es gibt keine Insel der Seligen. Das öffentliche Leben kommt auch in Großbritannien zum Stillstand. Besonders gefährdet ist Westminster, der Regierungsbezirk im Zentrum von London. Neil Ferguson vom Imperial Colllege, Autor der Corona-Studie, kann die Regierung derzeit schon nicht mehr persönlich briefen. Er entwickelte am 17. März leichten Husten und dann während der Nacht hohes Fieber.

„Wir glauben, dass die Ansteckungsgefahr nur in den 12 Stunden vor Ausbruch von Symptomen besonders hoch ist,” meinte er im Interview mit der BBC vom Krankenbett zu Hause aus: „Ich nehme also an, dass ich niemanden angesteckt habe.” Diese Worte aus dem Mund eines Virenexperten klangen so, als sei sein Metier eher Volksberuhigung als wissenschaftliche Analyse.

Covid-19 greift blitzschnell um sich

Der Lokalaugenschein von Cicero auf den Straßen von London spricht jedenfalls eine andere Sprache. Covid-19 greift blitzschnell um sich. Sowohl das Virus als auch die Panik. Rabbiner Yoni Golker etwa steht im Pyjama in der Tür, als eine Supermarktlieferung zu ihm gebracht wird. Der Rabbi hatte sich bis vor einer Woche um seine Gemeinde gekümmert, wurde dann krank, auf Corona getestet und war positiv.

Die Synagoge in St John’s Wood ist seitdem geschlossen. Rabbiner Yoni kuriert sich in Selbstisolation bei seiner Familie zu Hause aus. Seine vier Kinder husten auch längst. Seine Frau Dina ist sieben Monate schwanger. Sie hatte am Wochenanfang hohes Fieber und Atembeschwerden. Einen Transfer ins Krankenhaus hat die Rebbetzen abgelehnt. Sie will älteren Patienten kein Bett wegnehmen.

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© 2018 Tessa Szyszkowitz