Rezension aus FALTER 11/2020
„Hamlet“ versus „Tatort“
Nele Pollatscheks witzige Erinnerungen an ihre Zeit in „Dear Oxbridge“ sind auch aus gendertheoretischer Sicht interessant
Am Anfang ihres Studiums in Cambridge machte Nele Pollatschek eindringliche Erfahrungen wie diese: „Wer nicht gerade Schimmelpilze studiert, kann in solchen alten Gebäuden nicht studieren.“ Als die deutsche Studentin in die englische Eliteuni einzieht, merkt sie schnellt: Klos sind praktisch immer verstopft und Fenster nie dicht.
Schlimmer noch als die Unterschiede zwischen deutschen und englischen Behausungen aber sind jene der Bildung: „Da ja alle ,Hamlet‘ in der Schule durchgenommen haben, ist kein Mensch beeindruckt, wenn man ,Hamlet‘ kann. Das ist so, als wenn sich ein Deutscher für gebildet hält, weil er ,Tatort‘ schaut.“
Nele Pollatschek erzählt in ihrem Band „Dear Oxbridge. Liebesbrief an England“ mit heiterer Leichtigkeit von ihrer Studienzeit ebendort. Der Begriff, zu dem die ehrwürdigen Universitätsstädte Oxford und Cambridge fusioniert wurden, steht für die englische Eliteausbildung ganz generell.
In Oxbridge zu studieren war Pollatscheks Kindheitstraum, dessen Realisierung sich die 1988 geborene Berlinerin mit Leib und Seele verschrieben hatte. Wer denselben Traum verfolgt, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Denn wie alle klugen Liebenden hat Pollatschek ihr Oxbridge mit all dessen Stärken und Schwächen erfasst.
Größter Kulturschock, wenig überraschend: der Lernaufwand. Als sie innerhalb einer Woche ein Essay über das Thema der Armut bei Charles Dickens schreiben sollte und ihren Tutor fragte, welches Werk des Romanciers sie dazu lesen sollte, antwortete der: „Alle.“ Pollatscheks Fazit nach durchwachten Nächten: „Das Ergebnis eines Oxbridge-Studiums liegt irgendwo zwischen Genialität und Bullshit.“
Pollatscheks Debütroman „Das Unglück anderer Leute“ war 2016 als skurrile Tragikomödie gefeiert und mit Preisen bedacht worden. In „Dear Oxbridge“ haben die Beobachtungen der Anglistin als Deutsche in England und als Rückkehrerin nach Deutschland eine ganz eigene Qualität, weil sich die Autorin nie vereinnahmen lässt. Das, was sie an den Briten besonders schätzt – die nur schlecht zu übersetzende kindness – hat sie sich mit der darin versteckten Großzügigkeit zu eigen gemacht. Selbst für Brexiteers und Margaret Thatcher hat sie klare, aber nicht nur verurteilende Einsichten parat.
Ganz besonders erhellend ist das Kapitel, in dem es um das Thema Gendern geht. Die Autorin selbst bezeichnet sich in ihrem gesamten Buch als „Student“, obwohl das im deutschen Sprachraum inzwischen als antifeministisch gelte. Inzwischen? Oder noch?
Pollatschek erklärt, dass der Gebrauch des Wortes „Actor“ für „Schauspieler“ im englischsprachigen Raum längst nicht mehr für männlichen Darsteller steht, sondern eben für alle.
Während in Deutschland mit allen möglichen Formen gerungen wird, schätzt sie den pragmatischen Zugang der Engländer: „Das Ziel des englischen Weges zu Sprachgerechtigkeit ist, ,weibliche‘ Formen so ungebräuchlich zu machen wie das Wort ,Fräulein‘ und im Gegenzug Wörter wie ,Schauspieler‘, ,Kanzler‘ oder ,Ärzte‘ von jeglicher Geschlechtlichkeit zu befreien.“
Und: „Neben Mr, Ms, Miss und Mrs kann seit einigen Jahren auch Mx gewählt werden. Die Universitäten halten sich strikt daran und bezeichnen Menschen, die eine nicht binäre Anrede wünschen, als Mx. Und das ganz ohne Shitstorm.“
Womöglich hätte Nele Pollatschek aber gar nichts dagegen, wenn ihre Beobachtungen beim deutschen Publikum genau einen solchen Shitstorm auslösen. Denn das hat sie in Cambridge und Oxford gelernt: Es kommt nicht darauf an, wer recht hat. Es geht eher um tiefere Einsichten der interkulturellen Existenz. Und natürlich um den funkelnden Geistesblitz. Dafür bekommt sie von der Rezensentin die Bestnote. Oder wie es in Cambridge hieße: ein First.
Tessa Szyszkowitz in FALTER 11/2020 vom 13.03.2020 (S. 6)
Dear Oxbridge
von Nele Pollatschek