Von Martin Staudinger und Tessa Szyszkowitz ()
Seit zehn Monaten sitzt der umstrittene WikiLeaks-Gründer Julian Assange in Großbritannien in Haft. Nun könnte er an die USA ausgeliefert werden, wo ihm 175 Jahre Gefängnis drohen. Statuiert die westliche Welt an dem Enthüllungsaktivisten ein Exempel, das die Grenzen des Rechtsstaats sprengt? Manches deutet darauf hin.
Der Grüngürtel, der sich mitten durch das beschauliche Wohngebiet Thamesmead im Südosten von London zieht, ist nicht für Erholungszwecke gedacht. Hinter Büschen und Bäumen verbirgt sich vielmehr eine der berüchtigtsten Haftanstalten Großbritanniens: Belmarsh Prison, ein Hochsicherheitsgefängnis für Delinquenten der „Kategorie A“. Nach den etwas sperrig formulierten Richtlinien der Strafvollzugsbehörde Her Majesty’s Prison Service handelt es sich dabei um Personen, „deren Entkommen hochgefährlich für die Öffentlichkeit, die Polizei oder die Sicherheit des Staates wäre und für die es das Ziel sein muss, ihr Entkommen unmöglich zu machen“.
Ronald Biggs, der legendäre Posträuber; Tommy Robinson, Gründer der rechtsextremen British Defense League; Anjem Choudary, Führer der mittlerweile verbotenen islamistischen Gruppe Islam4UK; zahlreiche zu unrühmlicher Berühmtheit gelangte Mörder, Vergewaltiger: Sie alle saßen oder sitzen in Belmarsh ihre Strafen ab.
Mächtige Feinde
Gleichzeitig hat sich Assange aber so mächtige Feinde gemacht wie sonst niemand in Belmarsh: Geheimdienste, Militärs, Diplomaten und nicht zuletzt zwei US-Präsidenten, Barack Obama und Donald Trump – im Wesentlichen das gesamte Personal eines halbwegs ambitionierten Politthrillers, nur dass dieser keine Fiktion ist, sondern Realität.
Deshalb lässt sich die Frage, die inzwischen nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch in seriösen Medien herumgeistert, nicht so einfach vom Tisch wischen: Ist es denkbar, dass sich eine „Gruppe von demokratischen Staaten zusammengeschlossen hat“, um einen Rachefeldzug gegen Julian Assange zu führen – und dass dieser dabei gar „zu Tode gefoltert“ werden könnte?
Was klingt wie Auszüge aus dem Posting eines Verschwörungstheoretikers, sind Zitate aus Interviews mit dem honorigen Schweizer Rechtswissenschafter und Diplomaten Nils Melzer, der den Fall in seiner Funktion als UN-Sonderberichterstatter untersucht hat.
Die Tat, die Assange in Großbritannien angelastet wird, ist letztlich eine Bagatelle und bereits abgebüßt – ein Verstoß gegen Kautionsauflagen, die 2012 von der Justiz verhängt worden waren. Dass er trotzdem immer noch im Belmarsh Prison einsitzt, ist auf ein Auslieferungsbegehren der USA zurückzuführen, über das am 24. Februar erstmals verhandelt wird; aber auch darauf, dass WikiLeaks die Außen- und Sicherheitspolitik der westlichen Welt in wesentlichen Teilen entblößt hat: durch Publikation einer Unzahl von nicht für die Öffentlichkeit gedachten Berichten, Dokumenten und anderen Informationen.
Dafür drohen ihm in den USA nunmehr bis zu 175 Jahre Haft.
Was Assange, seine Enthüllungsplattform, ihre Anhänger und zahlreiche Medien als Dienst an der Wahrheit betrachteten, war aus der Sicht von Staaten und Regierungen eine Kriegserklärung. Besonders gereizt reagierten darauf Länder des demokratischen Westens, allen voran die USA.
Anlaufstelle für Whistleblower
Dabei hatten die Aktivitäten von WikiLeaks ursprünglich vor allem autoritäre Staaten getroffen. Gegründet im Jahr 2006 auf Initiative von Assange, versteht sich die Plattform in erster Linie als radikal transparente Anlaufstelle für Whistleblower. Genutzt wird sie vor allem von Oppositionellen in repressiven Systemen, die auf herkömmlichem Weg keine Öffentlichkeit für ihre Anliegen herstellen können – etwa in China, Nordkorea, Russland und Simbabwe. All diese Länder sperren nach unangenehmen Enthüllungen zumindest zeitweise den Zugang zu WikiLeaks.
2010 richteten sich die Aufdeckungen von Assange und seinen Aktivisten in mehreren Fällen gegen die Vereinigten Staaten. Die Plattform stellte nicht nur ein Video online, das mutmaßliche US-Kriegsverbrechen im Irak dokumentierte, sondern auch Hunderttausende Militär- und Geheimdienstberichte aus Afghanistan und dem Irak; und 2010 schließlich eine Viertelmillion Botschaftsdepeschen, die intimste Einblicke in die Arbeitsweise, die politischen Einschätzungen und die vertraulichen Erkenntnisse der amerikanischen Diplomatie erlaubten. Dass die deutsche Bundeskanzlerin von den Mitarbeitern des Außenministeriums in Washington „Angela ,Teflon‘ Merkel“ genannt und Russlands Präsident Wladimir Putin als „Alpha-Rüde“ bezeichnet wurde, waren dabei nur Peinlichkeiten am Rande. Die Aktion ging unter dem Schlagwort „Cablegate“ in die Geschichte ein.
Laut einem Geheimdienstdokument aus dem Jahr 2008 sahen die US-Behörden WikiLeaks als „potenzielle Bedrohung“ – einerseits wegen der Veröffentlichung geheimer Informationen, andererseits durch das Risiko der Verbreitung von Desinformation und Propaganda.
Währenddessen ist oft nicht klar, was Assange und seine Mitstreiter eigentlich betreiben: Journalismus oder Aktivismus? Medien feiern WikiLeaks als Instrument der Informationsfreiheit und fordern, die Plattform rechtlich genauso zu behandeln wie klassische Medien – also privilegiert, was den Quellenschutz und das Redaktionsgeheimnis betrifft.
Nicht alle sind dieser Meinung. Für die Behauptung diverser Regierungen und Behörden, die Enthüllungen von WikiLeaks hätten das Leben von Menschen gefährdet, gibt es zwar keine konkreten Beweise. Die Kritik an mangelnder redaktioneller Kontrolle und unzureichender Einschätzung der möglichen Folgen von Publikationen lässt sich aber schwer entkräften; auch wenn die Organisation selbst beteuert, Dokumente vor der Publikation penibel auf Authentizität, „Mittel, Motiv und Gelegenheit“ zu überprüfen. Zudem geht sie Partnerschaften mit seriösen internationalen Medien wie „Guardian“ oder „Spiegel“ ein, die Veröffentlichungen begleiten.
„Herrisch, egozentrisch und auf die eigene Wirkung bedacht“
Bei vielen dieser Kooperationen kommt es jedoch zu Konflikten. Sie entzünden sich meist an der Persönlichkeit von Julian Assange, die auch WikiLeaks-intern für Probleme sorgt. „Herrisch, egozentrisch und auf die eigene Wirkung bedacht“ – so zeigt ihn nach Einschätzung der „Zeit“ ein Porträt der Filmemacherin Laura Poitras. „Julian führt WikiLeaks wie einen Geheimdienst, mit Codenamen, Abschottung verschiedener Bereiche voneinander“, beschreibt die Regisseurin die Arbeitsweise der Plattform, deren Methoden mit der Zeit immer fragwürdiger geworden sind. 2017 etwa setzte WikiLeaks via Twitter 10.000 US-Dollar Belohnung für die „öffentliche Bloßstellung“ und „termination“ (das Wort kann „Kündigung“ ebenso bedeuten wie „Auslöschung) eines Journalisten an, dem eine Mitschuld an der Enttarnung einer Whistleblowerin gegeben wurde.
Zu diesem Zeitpunkt war die Organisation längst auseinandergebrochen. Und das lag nicht nur am zunehmenden Druck, den Staaten und Behörden ausübten – unter anderem, indem Kreditkartenunternehmen Spendenzahlungen an WikiLeaks verhinderten. Es lag auch an Assange selbst, der sich mit einem großen Teil seiner Mitstreiter heillos zerstritten hatte; und daran, dass er inzwischen de facto in Haft saß, und zwar in der Botschaft der Republik Ecuador in London.
Sein Weg dorthin hat mehr oder minder gleichzeitig mit den WikiLeaks-Enthüllungen über die US-Außenpolitik begonnen.
Im August 2010 ist Assange auf Besuch in Schweden. Die Piratenpartei stellt der Plattform einen Server zur Verfügung, um einer möglichen Blockade von WikiLeaks in den Vereinigten Staaten zuvorzukommen. Während seines Aufenthalts hat Assange nacheinander Sex mit zwei Frauen – einvernehmlich. Später melden sich die beiden jedoch bei der Polizei.
Es geht um ein Kondom, das während des Geschlechtsverkehrs kaputtgegangen ist oder von Assange kaputtgemacht wurde, und um die Angst vor einer HIV-Infektion. In Schweden gilt ein besonders strenges Sexualstrafrecht. Die Behörden leiten Ermittlungen wegen des Verdachts der Vergewaltigung ein. Es dauert nur Stunden, bis die Presse über den Fall berichtet.
Darüber, was danach passiert, gehen die Schilderungen auseinander. Fest steht, dass die Staatsanwaltschaft den Vorwurf der Vergewaltigung wenig später fallen lässt, die Ermittlungen kurz danach aber erneut aufnimmt. Der australische Staatsbürger Assange bemüht sich um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Schweden, die ohne Angabe von Gründen abgelehnt wird. Daraufhin reist er mit offizieller behördlicher Erlaubnis nach Großbritannien weiter. Wenig später erlässt die schwedische Justiz einen internationalen Haftbefehl wegen Vergewaltigung gegen den WikiLeaks-Gründer.
Nachträgliche Protokoll-Änderung
Laut UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer wurde die Polizistin, welche die erste Einvernahme mit der Sexualpartnerin von Assange durchgeführt hat, von ihrem Vorgesetzten dazu angewiesen, nachträglich das Protokoll zu ändern. Ursprünglich hätten die Frauen nämlich gar keine Vergewaltigung anzeigen wollen, aus ihren Aussagen habe sich für die Staatsanwaltschaft auch kein Hinweis auf ein Delikt ergeben.
„Es ist ein manipuliertes Beweismittel, aus dem die schwedischen Behörden dann eine Vergewaltigung konstruiert haben“, so Melzer unter Berufung auf offizielle Dokumente. Der zeitliche Zusammenhang mit den WikiLeaks-Enthüllungen über die US-Kriegsführung und Diplomatie im Jahr 2010 sei offenkundig.
Auffällig sei außerdem, dass den beiden Frauen auf Staatskosten der Kanzleipartner des früheren Justizministers Thomas Bodström als Rechtsbeistand zur Seite gestellt wurde. In der Amtszeit von Bodström hatten US-Geheimdienste in Schweden Jagd auf verdächtige Islamisten gemacht, diese entführt und in Geheimgefängnissen mit sogenannten „enhanced interrogation techniques“ (verschärfte Vernehmungstechniken) wie Waterboarding gefoltert.
In November 2010 stellt sich Assange in Großbritannien der Polizei und bleibt unter der Auflage, eine elektronische Fußfessel zu tragen, auf freiem Fuß. Inzwischen hat er aber Wind davon gekommen, dass in den USA still und heimlich ein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde. Dort geht Präsident Barack Obama besonders scharf gegen Whistleblower vor – etwa gegen den Armeesoldaten Bradley (nach einer Geschlechtsumwandlung mittlerweile Chelsea) Manning, der WikiLeaks Hunderttausende Dokumente und Videos zugespielt hat. Auch Manning wird 2013 unter anderem wegen Spionage zu 35 Jahren Haft verurteilt. (2017 wird sie vom scheidenden Präsidenten Obama begnadigt, 2019 aber für mehrere Wochen in Beugehaft genommen, um eine Aussage im Fall WikiLeaks zu erzwingen. UN-Sonderberichterstatter Melzer hat auch diesen Fall untersucht und sieht gegenüber Chelsea Manning „alle Elemente von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung erfüllt“.)
Assange will nicht nach Schweden zurückkehren, weil er fürchtet, von dort in die USA ausgeliefert zu werden. Er habe der Staatsanwaltschaft in Stockholm aber mehrfach angeboten, von London aus zu den Vergewaltigungsvorwürfen auszusagen, so Melzer. Das sei aber erst sechs Jahre nach Aufnahme der Ermittlungen in Anspruch genommen worden.
Umgekehrt seien die Schweden von Großbritannien unter Druck gesetzt worden, das Verfahren trotz mangelnder Aussicht auf Erfolg weiterzuführen. „Kriegt jetzt bloß keine kalten Füße“, heißt es in einem Mail der britischen Strafverfolgungsbehörde CPS an die leitende Staatsanwältin, als diese durchblicken lässt, dass es möglicherweise zu keiner Anklage gegen Assange kommen werde.
Am 19. Juni 2012 sucht Assange (der mittlerweile eine eigene Talkshow beim russischen Staatssender RT hat) in der ecuadorianischen Botschaft in London um Asyl an. Rafael Correa, der linksgerichtete Präsident des südamerikanischen Landes, ist ein erklärter Gegner der USA. Der WikiLeaks-Gründer wird aufgenommen und darf im Gebäude bleiben. Er wird es bis Mitte 2019 nicht mehr verlassen.
Von Russland instrumentalisiert?
Währenddessen kommt die Enthüllungsplattform immer mehr in Verruf. Zwar publiziert WikiLeaks noch einige brisante Datensätze aus autoritären Staaten, unter anderem Saudi-Arabien und der Türkei. Zum Sündenfall wird aber die Veröffentlichung von Tausenden E-Mails aus dem Mitarbeiterstab von Hillary Clinton mitten im Wahlkampf gegen Donald Trump. Bis heute lastet der Verdacht auf Assange, er habe sich dabei von Russland instrumentalisieren lassen, um der ehemaligen US-Außenministerin Clinton (2008–2012) für ihre damalige Rolle bei der Verfolgung von WikiLeaks eins auszuwischen.
Für Ecuador wird Assanges Anwesenheit in der Botschaft aus vielerlei Gründen zur Belastung. Der Dauergast muss versorgt und unterhalten werden, Gerüchte über sein zunehmend exzentrisches Verhalten (die später wieder dementiert werden) machen die Runde. Das Verhältnis zu den USA wird noch schlechter, als es ohnehin bereits war.
2017 kommt Bewegung in die festgefahrene Angelegenheit. In Ecuador wird der linke Staatschef Correa von dem konservativen Lenín Moreno abgelöst. Dieser macht eine bereits vollzogene Einbürgerung des WikiLeaks-Gründers rückgängig, lässt ihm das Internet in der Botschaft abdrehen und entzieht ihm schließlich das Asylrecht.
Am 19. April 2019 wird Assange schließlich von britischen Polizisten festgenommen und nur zwei Wochen später wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen zu 50 Wochen Freiheitsentzug verurteilt. Bereits zu Beginn der Haft, die er in einer Isolationszelle verbringt, ist sein Gesundheitszustand schwer angeschlagen, sagt UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer im Interview mit profil. Seine Anwältin darf anfangs nicht einmal Papier und Laptop zu den Besprechungen mit ihrem Mandanten mitnehmen.
Nach 20 Wochen Gefängnis wird Assange Mitte September der Rest der Strafe erlassen. Schweden hat das gegen ihn laufende Verfahren wegen Vergewaltigung inzwischen eingestellt. Dennoch kommt er nicht auf freien Fuß. Im Gegenteil: Er bleibt weiterhin isoliert. Erst im Jänner wird der WikiLeaks-Gründer in das Krankenrevier verlegt. „Es obliegt der Gefängnisdirektion, ob ein Insasse eine Gefahr für andere darstellt und in Einzelhaft bleiben muss. Julian Assange wurde schon mehrfach gewalttätig“, sagt Jonathan Eyal, stellvertretender Direktor des Geheimdienst-Thinktanks Royal United Services Institute.
Die generelle Begründung für die Aufrechterhaltung des Freiheitsentzugs lautet Fluchtgefahr. Die USA verlangen nämlich die Auslieferung Assanges, um ihn nach dem Espionage Act vor Gericht zu stellen. Das Gesetz aus dem Jahr 1917 soll in Kriegszeiten die Störung militärischer Operationen, Befehlsverweigerung und Unterstützung für den Feind verhindern. In den vergangenen Jahrzehnten wurde es ausschließlich auf Spione und Whistleblower aus Behörden und Regierung angewendet. Unter Präsident Obama haben die Vereinigten Staaten darauf verzichtet, nach dem Espionage Act gegen Julian Assange vorzugehen, weil dabei ein Konflikt mit dem sakrosankten ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, der die freie Meinungsäußerung schützt, fast unausweichlich wäre.
Unter Donald Trump hat sich das geändert. Der amerikanische Außenminister Mike Pompeo spottet bereits, Assange und seine Leute hätte wohl gedacht, die Pressefreiheit schütze sie vor der Justiz: „Aber da liegen sie falsch.“
Kann man davon ausgehen, dass Julian Assange unter diesen Umständen in den USA ein faires Verfahren bekommt, das Voraussetzung für eine Auslieferung ist? Diese Frage muss in den kommenden Wochen eine britische Richterin klären. Zu beneiden ist sie dabei nicht.
Update:
Nach jüngsten Meldungen hat sich der Gesundheitszustand von Assange etwas gebessert. Sein Vater berichtet, der WikiLeaks-Gründer habe inzwischen die Möglichkeit, Sport zu betreiben und sich an der frischen Luft aufzuhalten: „Es sind vier Wände mit einem Gitter oben drauf, und man kann im Regen stehen.“