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"Ist mein Stück Schnee von gestern?"

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Der britische Dramatiker Tom Stoppard über Brexit, #MeToo, jüdische Identität und sein neues Theaterstück "Leopoldstadt", das die Geschichte einer jüdischen Familie in Wien von der Jahrhundertwende bis in die 1950er-Jahre erzählt.

Interview: Tessa Szyszkowitz, London

 

Stoppard: Ich habe gerade eine SMS von Patrick Marber, meinem Regisseur, bekommen: Sie hätten ihm gesagt, die Schauspieler betonten das Wort Leopoldstadt falsch? Wir haben ihnen doch schon erklärt, dass Leopoldstadt im Deutschen wie "Leopoldschtadt" ausgesprochen wird. Jetzt auch noch Leopold, nicht Liopold?

profil: Ihr Regisseur hat vorhin nur gehört, wie ich das Wort mit meinem Wiener Akzent ausgesprochen habe, das klingt vielleicht ein bisschen anders. Nein, ich finde, Sie haben die Wiener Atmosphäre zwischen 1900 und 1954 sogar sehr gut getroffen - so weit ich das beurteilen kann. Haben Sie viel in Wien recherchiert?
Stoppard: Überhaupt nicht. Ich war gar nicht in Wien, bevor ich das Stück geschrieben habe. Es gibt ja viel Literatur, Sachbücher und Romane, die konnte ich hier in England studieren.
 

profil: Bei manchen Witzen und Anekdoten habe ich mich gefragt, ob Sie an Ihrer eigenen Familiengeschichte Maß genommen haben. War es so?
Stoppard: "Leopoldstadt" ist kaum autobiografisch. Am ehesten bin ich noch in dem jungen Briten am Ende des Stücks zu finden, der nach Wien zurückkehrt und sein früheres Leben als jüdisches Kind vergessen hat.

profil: Sie wurden nicht in Wien geboren, sondern im tschechischen Zlín, rund 200 Kilometer nordöstlich von Wien. Ihr Vater hatte das Glück, beim Schuhproduzenten Bata zu arbeiten. Der Besitzer rettete seine jüdischen Angestellten, schickte sie in Filialen ans andere Ende der Welt, bevor die Nazis die Tschechoslowakei besetzten.
Stoppard: Die treibende Kraft war der Arzt im Spital der Schuhfabrik, wo mein Vater als Mediziner tätig war. So entkamen wir nach Singapur. Ich war 18 Monate alt. Als mein Vater starb, war ich vier, wir flohen nach Indien weiter. Meine Mutter heiratete einen Engländer, so kam ich als Tom Stoppard nach dem Krieg in England an.

profil: Den Figuren in Ihrem Stück ergeht es viel schlimmer. Die meisten können nicht ausreisen. Sie verpassen den Moment, weil sie als assimilierte Juden glauben, sie seien als "christliche Österreicher jüdischer Herkunft" vor Verfolgung sicher. Erging es auch Ihren Großeltern so?
Stoppard: Ja, alle vier sind in Konzentrationslagern umgekommen. Wir wussten ungefähr, was mit ihnen passiert war. Aber meine Mutter wollte nie über die Vergangenheit reden. Es war offensichtlich schwierig für sie, damit fertigzuwerden, dass ihre Eltern und Schwestern im Holocaust ermordet wurden. Ich wollte nicht insistieren. Erst als sie 1996 gestorben war, begann ich die Familiengeschichte zu recherchieren. Ist es nicht erstaunlich, dass ich mich, wie so viele andere, so lange nicht mit der eigenen Familiengeschichte konfrontieren wollte? Man wendet sich ab und macht mit dem Leben weiter.

profil: In "Leopoldstadt" beschäftigen Sie sich erstmals mit Ihrer Herkunft, Ihrem jüdischen Erbe. Sie sind berühmt für Ihren Humor, und auch in "Leopoldstadt" fliegen die jüdischen Witze hin und her; man meint zu spüren, dass Sie in einer solchen Familie aufgewachsen sind.
Stoppard: Nein, gar nicht. Meine Eltern waren zwar Juden, aber ich habe keine gefühlte jüdische Identität. Als wir in England angekommen waren, hat meine Mutter nie wieder darauf hingewiesen. Ich wuchs als Engländer auf. Hier war es auch nicht wichtig, ob man aus einer jüdischen Familie stammte oder nicht.

profil: Warum haben Sie "Leopoldstadt" gerade jetzt geschrieben?
Stoppard: Ich habe im Jänner 2018 damit angefangen. Ich bin sehr gespannt, wie das Publikum reagieren wird, wenn der junge Engländer - also eigentlich ich - am Ende sagt, wie großartig Britannien sei, dass man Europa gerettet, Asylsuchende und Flüchtlinge aufgenommen habe.

profil: Ich habe bei der Generalprobe einige Leute sarkastisch lachen gehört, weil die Brexit-Insel sich gerade von der EU abschottet und schon 2015 kaum Flüchtlinge mehr aufgenommen hat. Das Parlament hat im Jänner sogar dafür gestimmt, das Recht minderjähriger Flüchtlinge, nach dem Brexit noch in Großbritannien mit ihren Familien vereint werden zu können, aus dem Austrittsgesetz zu streichen. Der Antrag dafür wurde ursprünglich von einem Lord eingebracht, der als jüdisches Flüchtlingskind mit einem Kindertransport nach England gekommen war.
Stoppard: "We stood alone" ist der Begriff aus der englischen Mythologie des 20. Jahrhunderts. Heute gibt es eine Art Triumphalismus in der Regierung über den Brexit. Am Ende waren die Menschen mehrheitlich für den Brexit. Ich treffe viele wohlhabende Leute, die mir erklären, dass alles ganz wunderbar wird. Nun ja, wir werden sehen.

profil: Wollten Sie auch deshalb über den Antisemitismus in Wien um 1900 schreiben, weil er in Großbritannien heute wieder eine Rolle spielt?
Stoppard: Eigentlich nicht. Der britische Antisemitismus war noch nicht so klar spürbar, als ich mit "Leopoldstadt" anfing. Es ist gewissermaßen Zufall, dass das Stück gerade jetzt Premiere hat.

profil: Fühlen Sie sich vom Antisemitismus bedroht?
Stoppard: Kann sein, dass ich mich irre, aber im Grunde nicht. Ich glaube nicht, dass das jüdische Leben in Großbritannien bedroht ist. Der Hass richtet sich eher gegen Muslime als gegen Juden.

profil: Könnte das ein Thema für Ihr nächstes Stück sein?
Stoppard: Mein nächstes Stück könnte sich um Frauen drehen.

profil: Wegen der #MeToo-Debatte? Regisseure haben oft ihre Macht gegenüber Schauspielerinnen ausgenützt.
Stoppard: Sie haben ihnen aber auch Arbeit gegeben.

profil: Das macht es nicht besser.
Stoppard: Natürlich nicht. Es hat sich über die Jahre vieles verändert. Vor ein paar Tagen schrieb mir ein Theater, dass man "Rosencrantz and Guildenstern Are dead" wieder aufführen wolle - mit zwei Frauen in den Hauptrollen. Früher hätte ich gesagt: Warum das denn? Aber heute schockiert uns nichts mehr. Glenda Jackson hat gerade King Lear gespielt.

profil: Warum wollen Sie ein Stück über Frauen schreiben?
Stoppard: Mich interessiert, wie sich ihre Rolle gewandelt hat. Ich bin noch mit einem bürgerlichen Ethos aufgewachsen. Die Männer haben die Frauen unterdrückt, aber sie dachten auch, dass sie ihnen mit ihrem ritterlichen Benehmen einen Gefallen tun. Die Frauen blieben zu Hause und wurden dadurch vor den Härten des Lebens draußen beschützt. Die Männer begriffen nicht, dass die Frauen sie und diese Situation mit wachsender Wut betrachteten. In welchem Jahr sollte dieses Stück spielen, was meinen Sie?

profil: In der Gegenwart, würde ich sagen. Derzeit scheint alles möglich zu sein, und der Backlash gegen feministische Errungenschaften ist besonders heftig. Guter Stoff für ein Stück über Frauen.
Stoppard: Würde ich Probleme bekommen, weil ich als Mann über Frauen schreibe?

profil: Ganz bestimmt. Es kommt aber auch darauf an, welches Stück Sie schreiben.
Stoppard: Das stimmt! Außerdem brauche ich vier bis fünf Jahre für ein neues Stück. Mit 87 bin ich dann wohl sowieso über alle Kritik erhaben. Ich werde dann bereits Teil des nationalen Kulturguts sein.

profil: Hoffen Sie darauf, dass "Leopoldstadt" bald schon im Burgtheater aufgeführt wird?
Stoppard: Ich denke schon, dass es in Wien auf die Bühne kommen wird. Österreichische Theaterleute haben schon Kontakt aufgenommen, ich weiß aber nicht, welche. Ich könnte mir vorstellen, dass man mein Stück entweder ganz besonders gerne in Wien aufführen wird - oder ganz besonders ungern.

profil: Es ist bis heute in Österreich ein Thema, wie sich die Österreicher im Dritten Reich verhalten haben. 1988 wurde im Burgtheater Thomas Bernhards Stück "Heldenplatz" uraufgeführt. 1993 stellte Bundeskanzler Franz Vranitzky klar, dass Österreich Mitverantwortung an den Verbrechen des Dritten Reiches trug.
Stoppard: Ist mein Stück also Schnee von gestern?

profil: Sie haben dieses Land in Ihrem Stück, das über drei Generationen reicht, in diesen heiklen Aspekten sehr gut beschrieben. Bei Ihnen heißt es: "Österreich hat sich als erstes Opfer dargestellt."
Stoppard: Ich habe das von Churchill gelernt. Er verwendete diesen Ausdruck in einer Rede vor österreichischen Emigranten im Februar 1942.

profil: Auch Stalin passte es politisch gut, dass Österreich als Opfer Hitlers dargestellt werden konnte. So kam das Land zu Neutralität und Unabhängigkeit.
Stoppard: Ich war in den 1970er- und 1980er-Jahren öfter in Wien, wenn meine Stücke aufgeführt wurden - seither nicht mehr. Es würde mir gefallen, wenn "Leopoldstadt" bald in Wien gezeigt werden sollte. Wir haben aber noch keinen Übersetzer. Kennen Sie Daniel Kehlmann?

profil: Soll er Ihr Stück übersetzen?
Stoppard: Wir haben gerade schön miteinander gearbeitet. Daniel hat ein Stück verfasst, "The Voyage of the St. Louis".

profil: Darin geht es um jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, die weder in Kuba noch den USA von Bord gelassen und nach Europa zurückgeschickt wurden.
Stoppard: Ich habe es für die BBC als Hörspiel adaptiert. Am Montag gehe ich zur ersten Tonaufnahme. Ich weiß nicht, ob Daniel "Leopoldstadt" übersetzen möchte. Es wäre aber eine schöne Idee.

Bleiben Sie auf dem Laufenden!

© 2018 Tessa Szyszkowitz