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"Es ist beschämend"

Am 2. März wählen die Israelis zum dritten Mal innert

13 Monaten ein neues Parlament. Amtsinhaber Benjamin

Netanjahu, der seit 1996 immer wieder Regierungschef

geworden ist, konnte keine Mehrheit für eine Regierung

finden. Der Chef der konservativen Likud-Partei hat drei anhängige

Korruptionsprozesse, tritt aber erneut an. Im profil-

Gespräch erzählt Aluf Benn, seit 2011 Chefredakteur der

liberalen Tageszeitung „Haaretz“, warum die Israelis sich so

schwer tun, eine progressive Friedenspolitik zu verfolgen.

profil: Wieso tritt Benjamin Netanjahu noch immer an, obwohl

er wegen Korruption angeklagt ist?

Benn: Weil er so populär ist. Die Likud-Wähler haben ihn

gerade noch einmal zum Parteichef und Spitzenkandidaten

gewählt. Das ist Demokratie. Seine Fans denken, er sei der

Einzige, der ihre Interessen vertritt.

profil: Aber er steht mit einem Bein schon im Gefängnis.

Benn: Es ist in der Tat unglaublich skandalös, was er getan

hat. Im sogenannten Korruptionsfall 4000 hat er seine Position

benutzt, um einer Mediengruppe im Austausch gegen

positive Berichterstattung regulatorische Unterstützung zu

geben. Dafür ist er wegen Bestechung angeklagt. Im Fall

1000 geht es um Zigarren, aber nicht um eine oder zwei,

sondern Zigarren, Champagner und solche Dinge im Wert

von Hunderttausenden Dollars. Es ist beschämend.

profil: Und trotzdem könnte er noch einmal Premier werden?

Benn: Schauen Sie sich die Wähleranalysen in Israel an.

Wir haben alle Städte und Dörfer nach sozioökonomischem

Status in zehn Körbe aufgeteilt. Die Oberschicht – die Körbe

10, 9 und 8 – wählt Blau-Weiß, das Bündnis von Benny

Gantz. Korb 7 ist gemischt. Korb 5 und 6 gehen an den Likud.

Und die Unterschicht – Körbe 1 bis 4 – sind entweder

die ultraorthodoxen Juden oder die israelischen Araber. Wir

reden zwar immer über den Friedensprozess und die Unabhängigkeit

des Obersten Gerichtes, aber was interessiert die

Wähler der Mittelschicht wirklich? Ihre sozioökonomische

Lage. Netanjahus Wähler wollen, dass er bleibt, damit er die

Upperclass für sie bekämpft und dafür sorgt, dass sie nicht

aus der Mittelschicht nach unten rutschen.

profil: Die Oberschicht wählt den Zentristen Benny Gantz?

Benn: Genau. Weder Gantz noch Netanyahu können allein

regieren. Da Gantz nicht mit Netanjahu kann – auch wegen

der Korruptionsfälle, in die Netanjahu verstrickt ist –, brauchen

sie die kleinen Parteien. Die Ultraorthodoxen sind

zwar ein kleinerer Bevölkerungsteil, aber sie gehen alle zu

den Wahlen. Die Araber dagegen bleiben zu Hause. Wenn

ihre Wahlbeteiligung steigt – worauf einiges hindeutet –,

bekommen wir eine Chance auf eine Links-Mitte-Mehrheit.

profil: Könnte Gantz den Friedensprozess wieder in

Schwung bringen, sollte er gewinnen?

Benn: Das letzte Mal, als ein Friedensprozess in Gang kam,

wurde Premierminister Jitzhak Rabin von einem israelischen

Siedler erschossen, Israel landete am Rande eines

Bürgerkrieges. Die Israelis akzeptieren heute die Netanjahu-

Parameter: Der Konflikt mit den Palästinensern kann nicht

gelöst werden, und das Beste, was man machen kann, ist die

israelische Wirtschaft zu entwickeln, lokale Partnerschaften

anzustreben und international einen gewissen Preis dafür

zu zahlen, dass man den Status quo erhält. Dafür kann man

einen Bürgerkrieg in Israel vermeiden.

Interview: Tessa Szyszkowitz

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© 2018 Tessa Szyszkowitz