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Streets of London

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BREXIT UND NEUWAHLEN-Streets of London

Heute wäre Großbritannien nicht mehr Teil der EU gewesen. Doch vor dem Brexit kommen die Neuwahlen: Auch im vierten Jahr nach dem Referendum kommen das Land und seine Hauptstadt London nicht zur Ruhe. Viele haben Angst um ihre Arbeitsplätze und um den Zustand ihres Landes.

Sein Kaffee wird kalt. Doch das macht Mike Pelanconi nichts aus. Sein Puls hat sich sowieso schon längst beschleunigt, das passiert immer, wenn es um den Brexit geht. „Ich bin so wütend“, sagt der Musikproduzent, der hier unter dem Künstlernamen Prince Fatty bekannt ist. Sein Großvater war noch Italiener, er sei Brite, „aber ich fühle mich vor allem als Europäer und Weltbürger.“ Er sitzt in South Kensington im Kaffeehaus, einen Steinwurf vom Victoria&Albert-Museum entfernt und kann es nicht fassen, was die britische Regierung dem Land antut: „Wegen des Brexits habe ich etwa ein Drittel meines Einkommens verloren. Die Franzosen buchen meine Musiker gerne lange im Voraus und wir wissen ja nicht einmal, ob wir demnächst die Grenzen dicht machen.“

Es ist Spätherbst geworden und es regnet in London. Das müsste man vielleicht nicht extra erwähnen. Es ist ja keine Nachricht, den Normalzustand zu beschreiben. So ist es inzwischen aber auch mit dem Brexit. Die Verhandlungen sind jetzt schon in ihrem vierten Jahr. Die EU hat bereits zwei Austrittsverträgen zugestimmt, doch das britische Parlament konnte sich bisher nicht dazu entschließen, einen davon zu ratifizieren. Brüssel hat deshalb einer Verschiebung des Brexit auf 31. Januar 2020 zugestimmt. Um den Brexitknoten zu zerschlagen, hat Boris Johnson Neuwahlen am 12. Dezember durchgesetzt. Der britische Premierminister hofft dabei auf eine klare Mehrheit für seinen harten Brexit-Deal. Sein Herausforderer Jeremy Corbyn von der Labour-Party dagegen will nach seinem Sieg ein Referendum über das EU-Austrittsabkommen abhalten.

London, die Hochburg der Proeuropäer

„Das ist doch nicht mehr auszuhalten, wir müssen endlich Klarheit schaffen“, sagt Alison Thom. Die pensionierte Lehrerin sieht dabei keineswegs aus, als sei sie nahe des Nervenzusammenbruchs. Das aber ist eine Kerntugend der Engländer. Auch im gravierenden Ernstfall zittert die Oberlippe höchstens ein bisschen. Lehrerin Thom wartet vor einer Bäckerei bei der Ubahn-Station South Kensington auf ihre Tochter. „Ich habe beim EU-Referendum für den Verbleib in der EU gestimmt“, erzählt die Mutter. „Doch meine Landsleute waren anderer Meinung. Wir müssen diese Votum eben umsetzen, da hat Boris Johnson leider recht. Alles andere wäre undemokratisch.“ Sie zweifelt daran, dass die Wahlen eine Klarheit bringen: „Das Land ist doch gespalten.“ Sie fürchtet, dass die Brexit-Misere die Briten noch lange verfolgen wird. Ihr Gesicht leuchtet erst auf, als sie ihre Tochter in der Menge erkennt.

 

London ist die Hochburg der Proeuropäer. Sechzig Prozent der Haupstädter stimmten 2016 für den Verbleib in der EU. Kensington ist gleichzeitig der reichste und ärmste Bezirk Londons. In South Kensington wohnen Prinz William und seine Catherine im Kensington-Palast. Gleich neben dem Queen-Enkel residieren der russisch-britische Oligarch Len Blavatnik und der indisch-britische Stahl-Tycoon Lakshmi Mittal. Die beiden nennen etwa 15 Milliarden Pfund ihr eigen und streiten sich jedes Jahr um die ersten Plätze auf der Reichsten-Liste im Vereinigten Königreich.

Der Grenfell-Tower als Symbol

In North Kensington dagegen leben Londoner, die sich am anderen Ende der Einkommenstabelle befinden. Dort steht auch immer noch die Ruine des Grenfell Towers. Der Wohnturm brannte im Juni 2017 aus. 72 Menschen starben. Die offiziellen Schlussfolgerungen aus der öffentlichen Untersuchung wurden erst kürzlich präsentiert: Wenn man die Leute früher evakuiert hätte, wären weniger Menschen umgekommen. Die Brandkatastrophe ist an sich Lokalpolitik. Doch der eklatante Unterschied zwischen reicher Oberschicht und prekärem Subproletariat ist hier neben dem Brexit das Thema des Wahlkampfes. Grenfell ist ein Symbol dafür geworden, dass etwas faul ist im Vereinigten Königreich.

Im Schatten des Grenfell-Towers steht das „Kensington Leisure Centre“. Aus dem Sportzentrum der Gemeinde kommt eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn. „Mein älterer Sohn hatte in seiner Schule einige Kinder aus Grenfell“, erzählt die Frau, die ihren Namen für sich behalten möchte: „Wir können niemandem mehr trauen.“ Viele hier in North Kensington haben den Schock des Brandes vor zwei Jahren noch längst nicht verarbeitet. In den zwei Jahren ist das Gefühl stärker geworden, dass die politische Klasse in Westminster nicht die Interessen der Wähler, sondern ihre eigenen im Auge hat.

Um Kesington wird besonders heftig gekämpft

Der Verdacht ist nicht ganz unberechtigt. Boris Johnson wollte nun auch lieber Neuwahlen, als seinen Brexitdeal weiter im Parlament zu diskutieren. Dem hatten die Parlamentarier in einer zweiten Lesung ja bereits zugestimmt. Aus seiner Sicht ist es verständlich, dass er zu den Urnen drängt. Immerhin führt Johnson in den Umfragen haushoch. Seine Konservativen liegen mit 37 Prozent weit vor Labour mit 22, den Liberaldemokraten mit 19 und der Brexitparty mit 11 Prozent. Das Land ist polarisiert, es ist in harte Brexitgegner und überzeugte EU-Freunde gespalten. Da die Briten nach Mehrheitswahlrecht ihr Parlament zusammensetzen, wird der Wahlkampf dort besonders heftig geführt, wo der bisherige Abgeordnete die letzten Wahlen 2017 nur mit einer kleinen Mehrheit gewonnen hat.

Zum Beispiel in Kensington. Die Labour-Abgeordnete Emma Dent Coad bekam 20 Stimmen mehr als der konservative Kandidat. Das grenzte an eine Revolution, weil Kensington bis dahin immer ein konservativer Sitz gewesen war. Ob Emma Dent Coad ihren Sitz verteidigen kann? Seit 2017 ist die Beliebtheit von Labour-Chef Jeremy Corbyn arg geschrumpft. Er hat zum Brexit keine klare Position bezogen, das könnte der Labour-Party gerade in London und in Kensington, in dem die hohe Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt hat, zum Verhängnis werden. „Ich gebe meine Stimme sicher nicht noch einmal diesem Mann“, sagt die junge Mutter vor dem Grenfell-Tower: „Corbyn ist doch mit daran schuld, dass der Brexit kommt. Weder beim Referendum 2016 noch bei den Wahlen 2017 hat er klar gegen den EU-Austritt Stellung bezogen hat.“

Weshalb die Opposition nicht profitert

Die Liberaldemokraten könnten vom Frust der Labour-Wähler profitieren. Das könnte Labour einen Sitz wie jenen in Kensington kosten. Labour-Abgeordneter David Lammy hofft, dass Labour die marginalen Sitze trotzdem halten kann. Er setzt sich mit großer Energie sowohl für eine transparente Aufarbeitung der Grenfell-Katastrophe als auch für ein zweites Referendum über den EU-Austritt ein. „Ich bin auch deshalb so sehr gegen den Brexit-Deal von Boris Johnson, weil er uns sehr weit weg vom europäischen Sozialmodell führen wird.“ Wieso aber kann die Opposition bisher nicht davon profitieren, dass die konservative Regierung das Vereinigte Königreich ins Brexitchaos gestürzt hat? „Ich habe die unklare Brexitposition meiner Parteiführung immer sehr kritisiert“, sagt Lammy. Direkt angreifen will er seinen Parteichef Corbyn aber nicht. Zumindest nicht im Gespräch mit ausländischen Journalisten.

Ein Großteil der Labour-Wähler sind jedenfalls klar gegen den Austritt aus der EU: „Wir brauchen den Brexit sicher nicht“, sagt auch Jonas Morffat. Er ist Brite, seine Familie stammt ursprünglich aus der Karibik, einem Teil des ehemaligen Empires. Morffat beaufsichtigt die Putztruppe einer großen Reinigungsfirma für Büros in Nordkensington. Wenn der Brexit Banken und Firmen aus London vertreibt, wird auch weniger geputzt werden müssen.

Gewinnt Johnson, kommt kein zweites Referendum

Das sehen die Arbeitgeber auch so. In einem offenen Brief an den Premierminister haben die Vertreter von Luftraumunternehmen, Autofirmen, Nahrungsmittelproduzenten und von chemischen und pharmazeutischen Produkten gewarnt, dass Boris Johnsons Brexitpläne die Arbeitsplätze von 1,1 Millionen Briten gefährden: „Der harte Brexit ist eine ernsthafte Bedrohung für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Fertigungsindustrie.“ Diese fünf Industriebereiche steuern über 100 Milliarden Euro pro Jahr zur britischen Wirtschaftsleistung bei. „Klar“, sagt Morffat, „die Arbeiter in der Autoindustrie werden als erste getroffen, wenn das Vereinigte Königreich sich von der EU immer weiter entfernt. Es trifft immer die Ärmsten zuerst.“

Beim EU-Referendum 2016 hat Jonas Morffat für den Verbleib in der EU gestimmt. Er würde das auch bei einem weiteren Plebiszit tun. Wenn er die Chance bekommt. Gewinnt Boris Johnson die Wahlen, dann schenkt er seinen Landsleuten aber eines sicher nicht zu Weihnachten: ein zweites Brexit-Referendum.

Mike Pelanconi: "Ein Drittel meines Einkommens schon verloren."

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© 2018 Tessa Szyszkowitz