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"Noch bin ich nicht an einer Überdosis gestorben"

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profil am 19.9.2019


Mit ihrer düsteren Dystopie "Der Report der Magd" lieferte Margaret Atwood vor 34 Jahren einen literarischen Erfolg. Die auf dem Stoff basierende TV-Serie machte sie jedoch 2017 weltberühmt und zur Schutzheiligen des Feminismus. Jetzt präsentierte die Kanadierin vor ausgewählter Weltpresse den Fortsetzungsroman "Die Zeuginnen" in London. profil war dabei.

Knallgrün ist das Buchcover von "Die Zeuginnen". Im gleichen Farbton waren auch die Fingernägel von Margaret Atwood lackiert, als sie vergangenen Dienstag in der "British Library" in London ihr neues Buch handverlesenen Vertretern der Weltpresse vorstellte. Daraufhin angesprochen, hob die kanadische Autorin ihre Hände stolz in die Luft. "Frühlingsgrün ist doch eine Farbe der Hoffnung", erklärte die 79-jährige Schriftstellerin. Man sah ihrem strahlenden Gesicht die Freude an dem bombastischen Spektakel an, das die Veröffentlichung von "The Testaments", so der Originaltitel, am vergangenen Dienstag begleitete.

 
Der Nachfolgeroman zum Dauerbrenner-Bestseller und Atwoods Horror-Vision einer misogynen, totalitären Gesellschaft "Der Report der Magd" (im Original "The Handmaid's Tale") wurde vorige Woche in London mit einem Medienzirkus präsentiert, der ansonsten nur Joanne K. Rowling zuteil wird. 50 Millionen Mal wurde "Der Report der Magd" inzwischen weltweit verkauft; "The Testaments" könnte diese Zahl noch überflügeln. Der vergangene Dienstag war der weltweite Publikationstag. Auch die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel "Die Zeuginnen" zeitgleich. "Das letzte Mal war in Buchhandlungen nachts so viel los," schrieb "The Guardian" angesichts der vor Buchläden kampierenden Menschenmassen, "als der Abschlussband von Harry Potter erschien."
 

"Es ist tatsächlich so, dass Atwood eine Prophetin ist"

Das digitale Zeitalter hat den Literaturbetrieb auf Trab gebracht und in andere Dimensionen gestoßen. Vor allem, wenn die Echokammer der Autorin so groß ist wie jene von Margaret Atwood. In Ländern, die das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsunterbrechung noch immer oder schon wieder infrage stellen, wie Amerika oder Polen, gehen Frauen seit dem Erfolg der Fernsehserie in den roten Kutten und weißen Hauben, den Uniformen der Mägde, auf Protestmärsche. Oft tragen sie auch Schilder, auf denen Slogans zu lesen stehen wie: "Macht Atwood wieder zur Fiktion!" Die "Mägde" sind in Atwoods Roman jene wenigen fruchtbaren Frauen, die als Gebärmaschinen in einem totalitären Staat missbraucht werden. "Es ist tatsächlich so", schreibt das US-Magazin "Time", dessen aktuelles Titelblatt die späte Pop-Literatin ziert, "dass Atwood eine Prophetin ist und alles kommen sehen hat."

In London handelte es sich um Mitternacht in der Nacht vom 9. auf 10. September um PR-Gedonner und nicht um Protest. Mägde in roten Röcken mit weißen Hauben trafen in den vier Stockwerken eines der größten Buchläden in London, Waterstones in Piccadilly, auf jene Hausgehilfinnen, die in Buch und Serie zu grauen Kostümen verdammt sind. Daneben standen Aufseherinnen in Grün. Es war schwer auszumachen, welche dieser kostümierten Erscheinungen Fans waren und welche von der PR-Agentur eingekleidete Hostessen. Um die Zeit bis zum Verkaufsstart um Mitternacht zu überbrücken, wurde intellektuelles Unterfutter mit Podiumsdiskussionen und Lesungen der britischen Literaturstars Elif Shafak und Neil Gaiman gereicht. Schlag Mitternacht läutete Margaret Atwood mit einer Handglocke zum Verkaufsstart von "The Testaments".

"Seit 'Handsmaid's Tale' erschienen ist, haben wir uns nicht von Gilead wegentwickelt"

Schon wenige Stunden später betrat die betagte Dame mit den sorgfältig ondulierten grauen Kringellöckchen leichtfüßig den Hort gedruckter Weisheit in London, die British Library. Hier, wo die Magna Charta von 1215 aufliegt, traf Margaret Atwood auf eine handverlesene Truppe von Journalisten. profil war unter den Geladenen. Mit melancholischem Tonfall erzählte sie über die Entstehungsgeschichte ihres jüngsten Buches: "Seit 'Handsmaid's Tale' erschienen ist, haben wir uns nicht von Gilead wegentwickelt."

Gilead, das ist das Reich der faschistischen Theokratie, die in Atwoods beiden Romanen auf dem Territorium der USA nach einem zweiten amerikanischen Bürgerkrieg etabliert wurde. Seit Donald Trump ins Weiße Haus eingezogen ist, wurde der Begriff Gilead zum Symbol für seine Politik. Atwoods Bücher werden weltweit als Warnung vor der drohenden Rückentwicklung demokratischer Errungenschaften und vor erratischen Rechtspopulisten wie US-Präsident Trump und neuerdings auch Großbritanniens neuem Premier Boris Johnson gelesen. Diese "Strongmen" setzen sich kalt lächelnd über demokratische Institutionen hinweg. Dass die Unfruchtbarkeit der meisten Frauen in Gilead durch eine Klimakatastrophe hervorgerufen wurde, potenziert die prophetische Kraft von Atwoods Literatur zusätzlich.

Obwohl Atwood mit monotoner Stimme spricht, ist jedes einzelne Wort ganz deutlich zu verstehen. Denn es ist kein Laut im Publikum zu hören. Als Erfolgsautorin mit fast prophetischer Einbildungskraft strahlt sie inzwischen unangefochten eine natürliche Autorität aus. "Vor allem in den USA sind wir Gilead heute näher als noch vor ein paar Jahren", sagt sie.

"In meinem Fall wissen wir ja schon, wie lange man die Sache mit dem Ruhm hinauszögern kann"

Bevor jetzt jedoch alle fürchten, demnächst von Schergen des Regimes abgeführt und am Trafalgar Square aufgeknüpft zu werden, wendet sie sich "leichterer Kost" zu. Ehe sie ihre Scherze gelassen zündet, blickt sie schelmisch in die Runde. Ob sie sich angesichts des Rummels wie ein Rockstar fühle? "Noch bin ich nicht an einer Überdosis gestorben", antwortet sie lachend. Bei Jüngeren sei Ruhm mitunter ruinös, aber in ihrem Alter nicht mehr so gefährlich: "In meinem Fall wissen wir ja schon, wie lange man die Sache mit dem Ruhm hinauszögern kann."

Ihr Publikum liebt sie für diesen trockenen Pragmatismus. Die dem Pressemeeting folgende Veranstaltung am Dienstagabend war dann der eigentliche Book-Launch im britischen "National Theatre" am Südufer der Themse. Die Fassade war, passend zum Buchcover, in helles Grün getaucht. Die Buchvorstellung wurde in über 1000 Kinos in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, aber auch in einigen europäische Städten übertragen. PR-Größenwahn in solchen Dimensionen war bislang der Popmusik vorbehalten.

Da Atwoods Literatur ob des weltweiten Rechtspopulismus mit all seinen rückwärts gewandten Begleiterscheinungen zum popkulturellem Phänomen aufgeladen wurde, spielt es schon fast keine Rolle mehr, was in der Fortsetzung nun eigentlich erzählt wird. Noch vor Erscheinen landete "The Testaments" auf der Shortlist des Booker-Preises, dem wichtigsten britischen Preis für englischsprachige Literatur. "Ein wilder, wunderschöner Roman", heißt es in der Begründung der Jury.

Der Vintage Verlag hatte den Plot streng geheim gehalten. Fans auf der ganzen Welt warteten schließlich seit 34 Jahren sehnlichst darauf, zu erfahren, wie das Martyrium der Magd Offred (im Deutschen: Desfred), endet. Nur ganz ausgewählte Medien wie die "New York Times" erhielten Vorabexemplare und Interviews mit der Autorin. Amazon lieferte dann allerdings irrtümlich einige Bücher zu früh aus, was einen Medienorkan der Empörung zur Folge hatte. Margaret Atwood schien auch dieses Malheur eher zu belustigen.

Die Kanadierin gilt seit Jahrzehnten als eine der wichtigsten Autorinnen der zeitgenössischen Literatur. Der durchschlagende Erfolg der Verfilmung 2017 aber kam auch für sie überraschend. Neben der politischen Brisanz des Stoffes liegt das auch an der hervorragenden Besetzung mit Elisabeth Moss als Hauptdarstellerin. Moss ist einem breiten Publikum aus der Serie "Mad Men" bekannt.

Als Magd Offred geht sie in der Fernsehserie, die vom Online-Streaming-Dienst Hulu produziert wurde und in Österreich auf Amazon Prime zu sehen ist, durch die Hölle von Gilead, einer faschistischen Theokratie der Jetztzeit, die aus einer Umweltkrise und einem Bürgerkrieg in Amerika hervorgegangen ist. Da viele Frauen wegen der Klimakatastrophe unfruchtbar geworden sind, werden jene, die noch schwanger werden können, als Sklavinnen gehalten, von ihren Kommandanten vergewaltigt, geschwängert und zum Kinderkriegen gezwungen. Die Figur von Elisabeth Moss begeistert die Fans mit wildem Widerstandsgeist und beinhartem Pragmatismus, wenn es ums Überleben geht. Der Erfolg der ersten Staffel zog zwei weitere nach sich, die aber weniger Zugkraft besitzen. Atwood-Fans wissen warum: Nach der ersten Staffel war die literarische Vorlage aufgebraucht. Umso wichtiger wurde die literarische Fortsetzung.

Atwood entschied sich dabei zu einem radikalen Schritt. Die Handlung setzt 15 Jahre nach dem Ende des ersten Romans ein. Ihre Hauptfigur tritt nur mehr marginal auf, dafür übernehmen drei Icherzählerinnen die Handlung. Nicht ganz überraschend dürfte es sich dabei um die beiden Töchter der Heldin June alias Magd Offred handeln. Die eine Tochter wächst in Gilead auf, die andere im freien Kanada. Doch dabei wird auch viel offen gelassen. "Ich mag es", meint die Autorin, "wenn den Leserinnen eine gewisse Freiheit bei der Interpretation gelassen wird."

"Man kann eine Frau nicht zwingen, ein Kind zu bekommen, das sie nicht bekommen will"

Gleichberechtigung und Feminismus waren für Atwood immer ein zentrales Anliegen. 1968 war sie 29 Jahre alt. "Man kann eine Frau nicht zwingen, ein Kind zu bekommen, das sie nicht bekommen will", sagt sie nahezu wütend. Punkt. Ihr stehen die grauen Locken zu Berge, wenn sie daran denkt, dass im Juni 2019 ein nur von Männern besetzter Gemeinderat in Waskom, einer Kleinstadt in Texas, "für ein totales Abtreibungsverbot gestimmt und Waskom zum Heiligtum für Ungeborene erklärt hat".

Die Abstimmung widerspreche zwar der US-Verfassung, die jeder Frau ein Recht auf Abtreibung bis zur 24. Woche verbrieft. Zurzeit jedenfalls. Irgendwann könne der Höchste Gerichtshof das Gesetz kippen. Es kommt darauf an, "wie lange Donald Trump mit der Untersützung christlicher Fundamentalisten im Weißen Haus bleibt und wie viele Höchstrichter er bestellen kann, die wie er gegen Schwangerschaftsabbruch eintreten". Dagegen habe sie als junge Frau gekämpft und muss es heute wieder tun: "Unter diesen Umständen haben einige meiner Romanfiguren eben heute in der Realität die Funktion des zivilen Widerstandes angenommen."

Dass ihre Literaur mit der Weltlage in Zusammenhang gestellt wird, begrüße sie durchaus. Nicht nur, weil Donald Trumps Schreckensherrschaft ihren Erfolg als Autorin multipliziert hat. Es gehe doch "um die Verteidigung liberaler Grundwerte". Eine Kritik an ihrer Leserschaft habe sie jedoch: "Die wenigsten verstehen, dass es sich bei meinen Büchern um optimistische Romane handelt." Das leuchtet in der Tat schwer ein.

"Es ist eine dystopische Vision, das stimmt"

"The Handmaid's Tale" erschien 1985. 1979 hatte die Revolution im Iran eine totalitäre, frauenfeindliche Theokratie hervorgebracht. Danach brach die Sowjetunion zusammen, Deutschland und Europa wurden vereint. "Doch diese Phase der Hoffnung, als wir vom Ende der Geschichte träumten, wurde durch 9/11 gleich wieder harsch beendet", erzählt die Autorin. In "Die Zeuginnen" beschreibt sie nun bereits die zweite Generation der in Gilead lebenden Frauen. "Es ist eine dystopische Vision, das stimmt", erklärt Atwood mit großmütterlicher Geduld, "eine Zukunftsvorstellung mit negativen Koordinaten": "Doch es gibt Hoffnung, und die besteht ja schon allein darin, dass wir dieses Buch lesen können." Was zähle, sei die Perspektive: "Die Zeuginnen haben Gilead doch überlebt. Es ist untergegangen." Damit verrate sie auch kein Geheimnis: "Das wissen wir ja schon seit 1985, seit dem letzten Buch."

Als Atwood sich am Ende der Veranstaltung erhebt, umringen sie sofort die jungen Frauen vom Vintage Verlag und der PR-Agentur. Sie bringen die Autorin in ein Zimmer hinter der Bühne und ziehen schnell die Tür hinter sich zu, um sie vor dem Ansturm der Massen zu schützen. Kurz konnte man noch sehen, wie sie ihrem greisen Star applaudierten und der zufrieden in die Runde lächelte. "Praise be (Gelobt seist du)", würden die Mägde in Gilead sagen.

Später Ruhm

Margaret Atwoods "The Handmaid's Tale" gehört seit seinem Erscheinen 1985 zu den meistbeachteten Romanen der Gegenwartsliteratur. Ihr Romandebüt "Die essbare Frau" erschien 1969; die Geschichte einer Frau, die die Nahrungsaufnahme verweigert (auch das prophetisch), soll demnächst für das Fernsehen verfilmt werden. Rund 60 Romane, Kinderbücher, Comics und wissenschaftliche Abhandlungen hat die lange als Literaturwissenschafterin an Universitäten lehrende Kanadierin bis heute verfasst. Die erste Staffel der TV-Serie "The Handmaid's Tale" (der Stoff wurde 1990 auch von Volker Schlöndorff verfilmt) wurde mit acht Emmys und zwei Golden Globes bedacht. In der Übersetzung "Die Zeuginnen" im Berlin Verlag (576 Seiten, 25,70 Euro) wahrt Monika Baark den lakonischen Ton des Originals. Die kühle Distanz zu den Greueln des Erzählten intensiviert die Spannung, für Gänsehaut ist gesorgt. Allerdings betritt Atwood beim zweiten Teil kein erzählerisches Neuland, der Roman hat eher Unterhaltungswert und ist kein literarischer Meilenstein.

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz