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Bei der Europawahl in Großbritannien erlebten die Tories ein Debakel, Labour erging es nicht viel besser. Großer Gewinner ist Nigel Farage. Offenbar sind die Briten sich uneins, ob sie einen No-Deal-Brexit oder ein zweites Referendum wollen. Für Theresa Mays Nachfolger könnte das zum Verhängnis werden.
„Wir helfen der Regierung gerne bei den Vorbereitungen auf den 31. Oktober”, triumphiert Nigel Farage nach den EU-Wahlen. Der Chef der Brexit-Partei gewann 28 der 73 britischen Sitze im europäischen Parlament. Er hat nur ein Ziel: Großbritannien so schnell wie möglich aus der Europäischen Union zu holen. „Die Brexit-Party muss Teil des Teams sein, das darüber mit der EU in Zukunft verhandelt.”
Davon wollen die regierenden Tories nichts wissen. Nigel Farage sitzt schließlich nicht einmal im britischen Parlament. Seine politische Karriere findet seit 1999 ausschließlich in jener Institution statt, die er verlassen will: dem EU-Parlament. Den britischen Konservativen bleibt trotzdem nicht anderes übrig, als Farages Zurufe ernst zu nehmen. Denn er hat ein knappes Drittel der Stimmen bekommen, die Tories dagegen wurden mit nur neun Prozent Zustimmung von den Wählern auf Platz Fünf verwiesen. Hinter den Grünen.
Wie in einigen anderen EU-Ländern auch zieht es die Wähler von den ehemals mächtigen Volksparteien im Zentrum zu populistischen Kräften am rechten, zuweilen auch linken Rand. Im Vereinigten Königreich hat dies allerdings einen sehr spezifischen Grund: Drei Jahre Brexitchaos unter Theresa May haben Großbritannien und die ehrwürdige Tory-Party in eine tiefe politische Krise gestürzt.
So sind nach den Europawahlen in Großbritannien gleichzeitig zwei Optionen wahrscheinlicher geworden: Ein No-Deal-Brexit UND ein zweites Referendum. Das klingt widersprüchlich, entspräche aber dem Wählerwillen. Nicht nur die Konservativen, auch die Labour-Party unter Jeremy Corbyn wurde mit nur vierzehn Prozent Wählerzustimmung für ihren schlingernden Brexit-Kurs abgestraft: Die Briten haben das Brexitchaos satt und wollen endlich eine Entscheidung. Die einen wollen einen harten Brexit, die anderen wollen den EU-Austritt wieder absagen.
Im Juli die Ablöse für May
Um aus der Brexitsackgasse herauszufinden, brauchen die Briten erst einmal einen neuen Regierungschef. Die jetzige Premierministerin Theresa May ist zwar am heutigen Dienstag beim EU-Gipfel in Brüssel und kommende Woche heißt sie noch US-Präsident Donald Trump in London willkommen. Doch am 7. Juni legt sie den Parteivorsitz nieder und führt bloß noch die Geschäfte in Downing Street weiter, bis vermutlich Ende Juli die Ablöse kommt. Die potentiellen Nachfolger haben sich bereits in Position gebracht. Das einzig relevante Thema ist nach wie vor: der Brexit.
Um Farage den Wind aus den Segeln zu nehmen, positionieren sich harte Brexitiere wie Boris Johnson in der Ecke jener, die einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ohne Abkommen am 31. Oktober für möglich halten. „No Deal” ist die juristisch gesehen logische Folge, wenn sich Regierung und Parlament nicht auf ein Abkommen mit der EU einigen können. Sollten die politischen Verhältnisse sich weiter polarisieren, dann kippt das Vereinigte Königreich im Herbst ohne Abkommen, Übergangsphase und Sicherheitsnetz für Bürger und Business aus der EU, dem Binnenmarkt und der Zollunion.
„No-Deal-Szenario” als Druckmittel
Allerdings beginnt der ehemalige Außenminister jetzt schon aufzupassen, was er sagt. In seiner Partei gibt es viele, die eher austreten als unter dem zwar charismatischen, aber sprunghaften Enfant terrible der Konservativen zu dienen. Also versucht Boris Johnson, es allen recht zu machen und meint in seiner Kolumne im Daily Telegraph: „Kein vernünftiger Mensch würde ausschließlich auf ein No-Deal-Szenario setzen.”
Fürwahr. Sollte Großbritannien im Herbst ohne Abkommen aus der EU austreten, dann herrschte Chaos an den Grenzen, die britische Wirtschaft würde zumindest kurzfristig schwer leiden und die britische Politik stünde auf lange Sicht vor der EU, aber auch auf der Weltbühne als eine verantwortungslose Mittelmacht da, mit der man besser gar nicht verhandelt. Ein Austritt ohne Abkommen, bei dem man auf die Regeln der WTO zurückfallen würde, wird eher als Druckmittel in den Verhandlungen mit der EU eingesetzt, als ernsthaft herbeigewünscht. Außer von Nigel Farage natürlich, der noch nie über irgend etwas, das die britischen Bürger betrifft, verhandelt hat.
Keine Geduld mehr für komplexe Zusammenhänge
Deshalb formiert sich bereits jetzt der Widerstand gegen die Hardliner. „Das Parlament würde alles unternehmen, um ‚No Deal‘ zu stoppen”, sagte der amtierende Außenminister Jeremy Hunt am heutigen Dienstag. Auch er, ein geläuterter Remainer, möchte Theresa May als Parteivorsitzender und Premierminister beerben. Er hofft auf weitere Verhandlungen und einen geordneten Austritt aus der EU. Wie das genau aussehen soll, weiß auch Hunt nicht genau. Schon Theresa May ist daran gescheitert, dass die EU das im November 2018 ausgehandelte Austritts-Abkommen nicht mehr weiter verhandeln wollte. Die legal nicht bindende politische Erklärung über die Zukunft der Beziehungen zwischen EU und Großbritannien dagegen könnte man noch ausbauen und mit der neuen Energie eines frischen Premierministers doch noch durchs Parlament hieven.
Diese komplexen Zusammenhänge wollen die Briten allerdings nach drei fruchtlosen Jahren in ihrer großen Mehrheit nicht mehr hören. Wer bei den EU-Wahlen nicht die Brexitparty von Nigel Farage gewählt hat, der stimmte für die Liberaldemokraten und die Grünen, die beide den Brexit absagen wollen. Beide Lager sind mit 35 bis 40 Prozent etwa gleich stark.
Für einen heißen politischen Sommer ist gesorgt
Die Proeuropäer treten für ein zweites Referendum ein. Emily Thornberry, Labour- Schattenaußenministerin, sprach sich dafür aus, endlich klare Position zum Brexit zu beziehen und den Briten ein zweites Plebiszit zu versprechen für den Fall, dass ein Austrittsabkommen im Parlament angenommen wird. Dazu ist auch ihr Parteichef inzwischen bereit – sofern es nicht schon davor zu Neuwahlen kommt: „Neuwahlen oder ein zweites Referendum, dafür steht Labour”, sagte Jeremy Corbyn. Man merkt ihm immer noch an, dass er als EU-Skeptiker davon wenig hält. Ihm wäre es lieber, er könnte durchs Land ziehen und Wahlkampf mit Klassenkampf machen. Doch die Umstände könnten ihn dazu zwingen, das leidige Brexit-Thema doch noch mit einer Volksabstimmung zu Grabe zu tragen.
Zumindest politisch gesehen ist also für einen heißen Londoner Sommer und Herbst gesorgt. Den bisher letzten Tory-Premierministern Margaret Thatcher, John Major, David Cameron und Theresa May wurde das Verhältnis der Briten zur EU zum Verhängnis. Wer immer als Nachfolger in Downing Street einzieht, wird mit aller Kraft versuchen, dieses Schicksal zu vermeiden. Leicht wird das ganz sicher nicht.