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Die Europawahl 2019 beginnt schon am heutigen Donnerstag mit der Abstimmung in Großbritannien. Ausgerechnet dort, wo der Brexit die Bevölkerung spaltet, bis in die Familien hinein. Boris Johnson, der eigentlich bereit steht für die Nachfolge von Theresa May, bekommt Gegenwind von der eigenen Schwester.
Rachel Johnson steht mit Absicht genau dort, wo ihr Bruder Boris sich oft ablichten hat lassen: vor einem „Battle Bus“, einem Wahlkampf-Bus. Der konservative Chef-Brexiteer Boris Johnson fuhr vor drei Jahren während der Kampagne zum EU-Referendum mit einen roten Bus durch das Königreich. Darauf der Spruch: „Jede Woche schicken wir der EU 350 Millionen Pfund, lasst uns lieber unser Gesundheitssystem finanzieren.” Das war zwar faktisch falsch – die Briten schicken netto die Hälfte nach Brüssel. Doch der populistische Slogan tat seine Wirkung. Die Briten stimmten mit 52 Prozent für den Austritt aus der EU.
Drei Jahre später steht auf dem Bus seiner proeuropäischen Schwester dagegen schlicht: „Für ein Referendum. Für den Verbleib in der EU. Wählt Change UK.“ Die Autorin und Journalistin Rachel Johnson sagt dazu: „Wir wollen in der EU bleiben”, und lacht verschmitzt wie ihr Bruder. Ihre Chancen, mit der Parteineugründung „Change UK“ ins europäische Parlament gewählt zu werden, sind allerdings bescheiden.
Tritt May gleich nach der Wahl zurück?
Rachel Johnsons politische Karriere dürfte schnell wieder zu Ende gehen. Die ihres Bruders Boris dagegen steuert gerade einem Höhepunkt zu. Seine Chancen auf den Einzug in 10 Downing Street steigen dank des Brexitchaos, in das er selbst sein Land gestürzt hat. Die Stunden der bisherigen Amtsinhaberin, der britischen Premierministerin Theresa May, scheinen gezählt. Die Gerüchteküche in Westminster brodelt. Es ist nicht mehr sicher, dass sie bis zum Wochenende durchhält. Die Times schrieb, May würde schon am morgigen Freitag zurücktreten.
Zuerst aber wählen die Briten am 23. Mai noch neue Abgeordnete ins Europäischen Parlament. Ausgezählt werden die Stimmen erst am Abend des 26. Mai wie im Rest der EU. Die Briten wollten an sich nicht mehr teilnehmen, da der Brexit aber bis zum 31. Oktober verschoben wurde, sind sie nun doch gesetzlich dazu verpflichtet, noch einmal in das ungeliebte EU-Parlament einzuziehen. Mays Konservativen droht dabei eine Kernschmelze. Sie hat die Umsetzung des Brexits versprochen und ihr Versprechen nicht halten können. Ein Drittel der Stimmen könnten laut jüngsten Umfragen an die EU-feindliche Neugründung „Brexit Party” von Nigel Farage gehen.
Das Vereinigte Königreich hat sich in den drei Jahren des Brexitchaos polarisiert. Nicht nur die Brexiteers, auch die Proeuropäer erheben jetzt lautstark ihre Stimme. Davon profitiert bei den EU-Wahlen in Großbritannien am ehesten die Kleinpartei der Liberaldemokraten. Die proeuropäische Neugründung „Change UK” dagegen muss um den Einzug ins EU-Parlament zittern. Noch ist sie vielen Wählern unbekannt. „Wenn wir gar keinen Sitz in Straßburg bekommen, wäre es schon sehr enttäuschend”, gibt Rachel Johnson bei einem Auftritt in der Kurstadt Bath zu, „aber dann werden wir hier im Land als proeuropäische Partei weiter dafür kämpfen, dass der Brexit abgesagt wird.”
Den Tories droht ein Debakel
Gehen oder Bleiben, das ist hier die Frage. Die Briten sind immer noch nicht in der Lage, eine Entscheidung herbeizuführen. Regierung und Parlament können sich nicht auf das Austrittsabkommen einigen, das Premierministerin Theresa May mit der EU im November 2018 ausgehandelt hat. Die glücklose, ungeliebte Regierungschefin will ihren Deal jetzt Anfang Juni noch zum vierten Mal vor das Parlament bringen. Die Chancen, das er angenommen wird, sind nicht gestiegen. Ihr droht ein Debakel. Vielleicht versucht sie es deshalb gar nicht mehr und tritt schon vorher zurück.
Was aber passiert dann? Es gibt drei Varianten. Die EU könnte noch einmal verlängern. Der Vorteil: Je länger man den Brexit auf die lange Bank schiebt, umso eher könnte er vergessen gemacht werden. Dagegen spricht, dass die Wirtschaft lieber eine klare, stabile Lösung hätte und dass sich Großbritannien politisch radikalisiert. Zwei Optionen könnten Klarheit schaffen. „Sagen wir den Brexit doch einfach ab”, sagt Rachel Johnson, „das wäre mir am Liebsten.” Die britische Regierung hat juristisch gesehen dazu die Möglichkeit. Nach Artikel 50 der EU-Verträge kann eine Regierung den Ausstieg sowohl unilateral auslösen als auch wieder zurücknehmen. Diese Variante aber hat in der britischen Bevölkerung keine Mehrheit.
Deshalb fürchten viele, dass die Briten am 31. Oktober auf einen Brexit ohne Deal zusteuern – das ist juristisch gesehen die logische Folge, wenn der Austrittsvertrag nicht angenommen wird. Wirtschaftlich gesehen würde dies dem Vereinigten Königreich schwer schaden. Die enge Vernetzung mit dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion sind für die Briten sinnvoll und lukrativ. Den Hardlinern ist dies allerdings egal, sie haben die komplizierten Verhandlungen satt. Der EU-feindliche, rechte Flügel der konservativen Tory-Partei will nach dem erwartbaren Rücktritt der moderaten Theresa May einen harten Brexiteer nach Downing Street entsenden, um „No Deal” durchzusetzen.
Boris Johnson scharrt mit den Hufen
Deshalb könnte die Stunde von Boris Johnson schneller schlagen als gedacht. Der 54-jährige ehemalige Außenminister scharrt schon in den Startlöchern. „Ein Brexit ohne Abkommen ist der einzige Weg, wie wir den Respekt für uns selbst bewahren können”, tönt der ehemalige Journalist und Außenminister. Abseits der populistischen Pointen, für die er berühmt und berüchtigt ist, scheint er an seinem Image zu arbeiten. Er hat abgenommen, sich den wilden Haarschopf in eine Art Frisur klippen lassen und klingt eine Spur weniger angriffig – so als bereite er sich auf höhere Verantwortung vor.
Hinter den Kulissen wirbt Bruder Boris in der Partei nicht nur um die Unterstützung der Brexit-Hardliner. Den konservativen Exzentriker Jacob Rees-Mogg hat er schon in sein Boot geholt. Nach einer Umfrage der Times hat Johnson 39 Prozent Unterstützung unter den Tories, Dominic Raab, der sich ebenfalls Hoffnungen auf das May-Erbe macht, bloß 13 Prozent. Johnson umgarnt jetzt auch die 60 moderaten Tories, die sich im Parlament um die liberal-zentristische Amber Rudd gruppieren. Andrea Leadsom, die für die Tories die Geschäfte im Unterhaus führte, und auch als potenzielle May-Nachfolgerin galt, trat am vergangenen Mittwochabend zurück. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang ist ein schwerer Schlag für die Premierministerin.
„Derzeit gibt es sehr viel Sturm und Drang”, kommentiert der konservative Energieminister Michael Gove in einem BBC-Interview süffisant. Der Brexiteer verwendet dabei den deutschen Begriff für jugendlich romantischen Überschwang. Ganz eindeutig eine klassisch englische Untertreibung – die konservative Tory-Partei ist schließlich gerade dabei, die eigene amtierende Premierministerin zu stürzen. Ob er Boris Johnson als Nachfolger unterstützen könnte? Gove: „Boris Johnson ist ein Konservativer mit Flair, Elan, Klasse und Intellekt.”
Vor drei Jahren, in den dramatischen Tagen des Juli 2016, war Michael Gove noch ganz anderer Meinung. Er entzog damals seinem alten Freund Boris die Unterstützung im Bewerb um den Chefsessel in letzter Minute mit der Begründung: „Trotz all seiner herausragenden Talente ist Boris Johnson nicht die richtige Person für diesen Job.”