Er ist wieder da
Die Kommunalwahlen in Großbritannien zeigen, dass die Briten im Brexit-Chaos weder Theresa May und den Tories vertrauen, noch Jeremy Corbyn und Labour. Davon profitiert vor allem Nigel Farage, obwohl er einen Großteil des Schlammassels zu verantworten hat. Wie macht er das? Ein Besuch in Wales.Federnd springt er auf die Bühne, dreht den Körper zum Publikum und öffnet die Arme so weit, als wolle er den ganzen Saal umarmen. „I am back“, ruft Nigel Farage: „Ich bin wieder da!“ Der Saal tobt vor Begeisterung. Sein ganzer Auftritt im „Neon“, dem ehemaligen Newport Odeon, signalisiert Leutseligkeit und Volksnähe. „Aber diesmal“, raunt der 55-Jährige dann und sein Lächeln rutscht ins Grinsen ab, „ist Schluss mit Mr. Nice Guy. Ich kann auch anders“.
Nach den Lokalwahlen ist vor den EU-Wahlen. Am vorigen Donnerstag hatten Theresa Mays Konservative bei Gemeinderatswahlen fürchterliche Verluste eingefahren: 1330 Tory-Gemeinderäte verloren ihre Sitze an Liberaldemokraten und Unabhängige. Doch auch Labour musste sich von 84 Räten verabschieden. Beide große Parteien wurden von den Wählern dafür gestraft, dass sie dem Land seit dem Brexit-Votum vor drei Jahren ein unwürdiges Polit-Spektakel bieten.
Chance für Kleinparteien
Für Theresa May wird es immer enger. Die Premierministerin kann kaum mehr auf Zustimmung zu ihrem EU-Scheidungsdeal hoffen. Hatte sie bis zu den Regionalwahlen noch gehofft, mit Labour-Chef Jeremy Corbyn einen Kompromiss-Deal vor dem 22. Mai zu erreichen, so arbeiten ihre Strategen jetzt bereits mit der Vorgabe, dass Großbritannien nicht vor dem 30. Juni austreten könnte. Auch das ist wenig wahrscheinlich, weil Corbyn lieber Neuwahlen hätte als May bei ihrem Brexit zu helfen. Bis zum 31.Oktober haben die Briten Zeit, unter sich einen Deal auszumachen, dann droht ein Austritt ohne Abkommen.
Da die Briten in der Brexit-Sackgasse feststecken, müssen sie jetzt Ende Mai doch noch einmal zu den Wahlen für das EU-Parlament antreten. Für die proeuropäischen Kleinparteien ist dies eine weitere Chance, von der Bevölkerung an der Wahlurne eine Antwort darauf zu bekommen, ob sie den Brexit vielleicht lieber absagen wollen. Die Liberaldemokraten hoffen ebenso auf viel Zustimmung wie die Neugründung Change UK. Dort sammeln sich elf ehemalige Abgeordnete aus der Tory- und Labour-Partei, die ihren Parteien aus Frustration über den Brexit-Kurs davongelaufen sind. Da bei den EU-Wahlen in Großbritannien mit Verhältniswahlrecht abgestimmt wird, sind die Chancen der kleinen Parteien höher, Abgeordnete zu bekommen. Bei nationalen Wahlen gilt in Großbritannien sonst das Mehrheitswahlrecht, weshalb im House of Commons die großen Parteien bevorzugt sind.
Der König der Pub-Theke
Weit vor den Proeuropäern liegt bei Umfragen für die EU-Wahlen allerdings der Ahnvater des Brexit: Nigel Farage. 28 Prozent würden für ihn stimmen, heißt es beim Institut YouGov, 22 Prozent für Labour, 13 Prozent für die Tories, danach für die proeuropäischen Kleinparteien. Bei den Lokalwahlen war Farage noch nicht angetreten. Die Stunde des Brexit-Zombies schlägt erst jetzt, am 23. Mai.
Sein Wahlkampf läuft bereits auf Hochtouren. Farage feiert seine Wiederkehr wie eine Auferstehung. Er will jetzt doch noch einmal, zum fünften Mal, ins Europäische Parlament einziehen. Seit 1999 sitzt er dort und schwingt EU-feindliche Reden. Da sich seine frühere Partei, die UKIP („United Kingdom Independence Party“) im Zuge des quälenden Brexitprozesses radikalisiert hat und heute offen antimuslimische Propaganda betreibt, trat er im Dezember aus und gründete die „Brexit Party“. Sie hat kein Parteiprogramm. Sie hat kaum Mitglieder. Aber sie hat ihn.
Nigel Farage reitet die Welle der Empörung gekonnt wie immer. Simpelste Botschaften ersetzen die komplexe Wahrheit, dass man eben nicht so einfach nach 46 Jahren die EU verlassen kann, ohne das Vereinigte Königreich zumindest kurzfristig wirtschaftlich und politisch zu beschädigen. Farage, König der Pub-Theke, gibt den frustrierten Brexit-Fans genau das, was sie hören wollen: „Die Westminster-Elite hat den Brexit verraten. Das lassen wir uns nicht länger bieten!“
„Wir wussten, was wir wollten“
Vor drei Jahren haben die Briten per Referendum mit 52 Prozent der Stimmen für den Austritt aus der EU votiert. Und was ist passiert? „Theresa May hat uns verraten“, meint auch Callum Vaga, der Medienwissenschaften in Cardiff studiert und bisher bei den Tories mitgearbeitet hat: „Die Konservativen vertreten uns nicht mehr.“ Deshalb sei er zu Nigel Farage gekommen: „Ich gebe meine Stimme jetzt lieber einem, der eine klare Politik vertritt.“
Hunderte sind in Newport ins „Neon“ gekommen, um die desaströse Lage der Nation kurz vergessen zu können. Bei Nigel Farage, der mit seinem smarten Anzug und dem jovialen Grinsen gute Stimmung verbreitet, sind sie damit an der richtigen Stelle. Der ehemalige Banker aus der Londoner City spricht ihnen aus der Seele: „Weil wir für den Brexit gestimmt haben, sind wir dumm? Nein! Wir wussten genau, was wir wollten!“ Die Leute klatschen hingerissen. Und ein bisschen trotzig.
Frustrierte Konservative
Newport erlebte seine Hochblüte während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert als wichtiger Hafen für den Export von walisischer Kohle. Das Zentrum der Stadt atmet die Melancholie einstiger Größe und gegenwärtigem Niedergang. Filialen von Poundshop und Starbucks reihen sich aneinander. Beim Referendum entschieden sich die rund 150.000 Einwohner von Newport mit einer Mehrheit von 56 für den Austritt.
Die meisten Kandidaten, die Farage aus dem Hut gezaubert hat, um etwas überstürzt an den EU-Wahlen teilzunehmen, sind frustrierte Tories oder ehemalige UKIP-Leute wie er selbst. „55 Jahre war ich in der konservativen Partei“, sagt Ann Widdecombe, die vor einem Monat bei den Tories aus- und bei Farage eingetreten ist: „Diese Partei ist nicht mehr für uns da!“
Neue Politpartner
Zum Publikumsliebling wurde die schlagfertige 71-jährige Ex-Ministerin durch ihre Teilnahme am Promi-Tanzfest „Strictly come dancing“ und an der Gameshow „Celebrity Big Brother“, bei der sie durch sexistische und LGBT-feindliche Meinungen auffiel. Jetzt steht sie neben Parteigründer und Spitzenkandidat Farage auf der Bühne und ist ganz in ihrem Element. Die EU ist ihr genauso verhasst wie ihrem neuen Politpartner. „Wenn der Brexit nicht passiert, dann verraten wir das Erbe unserer Großeltern“, ruft sie in den Saal: „Wenn wir uns von denen da am Kontinent regieren lassen wollten, dann hätten wir in Dünkirchen aufgegeben.“ In der französischen Hafenstadt waren 1940 britische Truppen von der deutschen Wehrmacht eingekesselt und durch eine beispiellose Solidaritätsaktion von englischen Fischern und privaten Bootsbesitzern gerettet worden.
Im Saal wabert der Geist des Widerstandes gegen das Dritte Reich. Es war schließlich das letzte Mal, dass sich die Briten heroisch gegen das Unrecht in der Welt aufgelehnt haben. Seitdem ging es nur bergab. Das Empire zerfiel, die englischen Fabriken bekamen keine billigen Rohstoffe mehr. Währenddessen gründeten die Deutschen mit den Erzrivalen des Insel-Volks, den Franzosen, das europäische Konsensprojekt EWG. Die Briten blieben zögerlich am Rande hängen, bis sie 1973 halbherzig beitraten.
Noch immer gespalten
Auch heute sind etwa die Hälfte der Briten für und die andere gegen einen Austritt aus der EU. Lustvoll schimpft Farage gegen die EU-Institutionen. Und auf Jean-Claude Juncker natürlich, das geht immer: „Juncker ist ja schon vor dem Mittagessen nutzlos. Aber nachher erst!“, spottet er und die Leute biegen sich vor Lachen. Dass Farage selbst stets mit einem Bier fotografiert wird, tut nichts zur Sache. Es geht nur um die Pointe, nicht um den Inhalt.
Farages Wiederkehr dürfte zwar seinen politischen Erzfeind Guy Verhofstadt von den proeuropäischen, belgischen Liberalen wenig freuen, doch weiter rechts hofft man auf seinen Sieg, um die Nationalisten im nächsten EU-Parlament zu unterstützen. Bei den EU-Wahlen 2014 war Farage, damals noch mit UKIP, mit 27 Prozent der Stimmen stärkste britische Partei im Europäischen Parlament geworden. UKIP ist inzwischen zerbröselt, von 24 Abgeordneten sind nur noch 4 übrig, die anderen sind aus der Partei geflüchtet.
Ein selbsternannter Robin Hood
Farage hat sich immer klar von den Rechtsradikalen abgegrenzt: Den krassen anti-islamischen Rassismus der Französin Marine Le Pen, des Niederländers Geert Wilders und der österreichischen FPÖ lehnt er ab. Die rechtsextremen europäischen Parteien sammeln sich im EU-Parlament in der Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“ (ENF). Dort sind FPÖ, die italienische Lega Nord und Le Pens „Rassemblement National“ vertreten. Nigel Farage hingegen entschied sich für die Fraktion „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD). Dort sitzt bisher auch Beatrix von Storch von der AfD.
Das rechtsrechte Lager will sich nach den EU-Wahlen neu aufstellen. Matteo Salvini von der italienischen Lega will deren Sprecher werden. Nigel Farage, der selbst ernannte Robin Hood der englischen Entrechteten, könnte sich in diesen Prozess mit neugefundener Kraft einbringen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.