Für Theresa May wird es im Chaos um den Brexit immer enger. Der Druck von der Straße wächst, in ihrer eigenen Partei geht es vielen Abgeordneten nur noch darum, die Premierministerin abzusägen, nicht mehr um einen geordneten EU-Austritt. Doch ein Befreiungsschlag wäre das kaum.
„Ihre Stunden sind gezählt“, sagt Theresa Mays Parteikollege Tom Tugendhat. Der Vorsitzende des Außenausschusses im britischen Parlament gehört zu jenen konservativen Abgeordneten, die loyal mit der Premierministerin für ihr EU-Austrittsabkommen im britischen Parlament gestimmt haben. Doch der Scheidungsvertrag wurde in Bausch und Bogen abgelehnt. Dass der Brexit-Deal beim dritten Mal angenommen werden könnte, scheint stündlich unwahrscheinlicher zu werden. Theresa May überlegt zur Zeit, ob sie ihn überhaupt noch einmal zur Abstimmung vorlegt.
Tom Tugendhat sagt im Gespräch mit Cicero, er fürchte, dass der Unmut in den eigenen Reihen sich längst gegen die Architektin des Scheidungsabkommens selbst richtet: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Premierministerin in wenigen Tagen nicht mehr im Amt sein wird. Was dann passiert, kann keiner sagen.“ Die Iden der May könnten noch im März kommen.
Es sind dramatische Tage in Großbritannien. Am 29. März sollte das Vereinigte Königreich aus der EU austreten. Das Austrittsdatum wurde auf dem EU-Gipfel in Brüssel am 22. März auf den 12. April verschoben. Doch die Briten können sich bisher nicht darauf einigen, was dann passieren soll. Sie wollen nicht ohne Abkommen austreten; sie wollen kein zweites Referendum; sie wollen vielleicht einen sanfteren Brexit. Den aber müsste man noch aushandeln. Dazu aber benötigt man Zeit, und die gibt es nicht. Die EU hat klar gesagt: Am 22. Mai müssen die Briten austreten – außer sie geben einen guten Grund an, warum sie noch bleiben wollen. Das letzte, was Großbritannien jetzt noch braucht, ist ein Wechsel in 10 Downing Street. Oder braucht es gerade den, um den Brexitprozess zu retten? Oder gar zu stoppen?
„Brexit ist komplettes Chaos“, rief Londons Bürgermeister und Labour-Politiker Sadiq Khan am Samstag Nachmittag auf dem Parlamentsplatz vor dem Westminster-Palast: „Es ist höchste Zeit, das Volk entscheiden zu lassen!“. Mindestens eine Million Menschen waren auf die Straße gegangen, um ein zweites Referendum über die Brexitfrage einzufordern. Die größte Demonstration in der modernen britischen Geschichte war ein massives Zeichen dafür, dass der Unmut über den mehr als holprigen Verhandlungs-Prozess in der Bevölkerung steigt.
Was macht eigentlich Labour-Chef Corbyn?
Fünf Millionen Menschen haben außerdem schon eine Online-Petitionunterschrieben, in der die Regierung aufgefordert wird, den Artikel 50 überhaupt zurückzunehmen. Das hieße, dass Großbritannien der EU mitteilt, dass das Vereinigte Königreich doch nicht austreten will und in der EU bleiben möchte. Theresa May hat dies und auch ein zweites Referendum schon oft und nachdrücklich abgelehnt. Auch deshalb hoffen viele, dass die Tory-Chefin von ihren eigenen Leuten weggeputscht wird. Dann käme neue Bewegung in die festgefahrene Austrittsdebatte.
„Wenn das Parlament von der Regierung aufgefordert wird, mehrfach über den gleichen Scheidungsvertrag abzustimmen, wieso kann dann nicht das Volk noch einmal befragt werden, ob es diesen Brexit überhaupt noch will?“, fragt Mary Kaldor, Politologie-Professorin an der „London School of Economics“. Die Proeuropäerin lehrt Globale Staatsführung. Für sie war es selbstverständlich, an der Demonstration für ein weiteres Referendum teilzunehmen: „Wir sollten in der EU bleiben. Und mithelfen, die EU-Institutionen zu reformieren.“
Offiziell will davon aber weder Premierministerin May noch Oppositionschef Jeremy Corbyn etwas wissen. Statt gegen die Regierung und ihr Brexitchaos auf die Straße zu gehen, zog der Labour-Führer es vor, in der verschlafenen englischen Hafenstadt Morecambe mit einigen der 30.000 Einwohner über ihre Wünsche und Beschwerden zu diskutieren. Es ist an sich ein strategisch wohl überlegtes Unterfangen, sich mit den Menschen – und potentiellen Wählern – direkt auszutauschen und nicht nur in der Westminster-Blase politische Intrigen zu basteln. Hätte Corbyn sich aber am Samstag an die Spitze des Protestmarsches gestellt und seine Stimme für ein zweites Referendum erhoben, dann wäre ein solches in den nächsten Wochen eine echte Option geworden. Ohne Unterstützung einer der beiden großen Parteien hat ein Plebiszit aber kaum Chancen auf Realisierung.
Geht es auf die ganz lange Bank?
Das weitere Vorgehen ist allen Beteiligten unklar. Im Parlament bereitet man sich erst einmal darauf vor, in Absichts-Abstimmungen festzustellen, wofür es im House of Commons, dem Unterhaus, eine Mehrheit gibt. Das mit der EU ausgehandelte Scheidungsabkommen selbst kann zwar nicht neu verhandelt werden. Doch könnte sich eine Mehrheit der Abgeordneten mit Hilfe der Labour-Partei auf eine neuformulierte politische Erklärung einigen, in der etwa ein Verbleib in der Zollunion für die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU festgeschrieben wird. Die politische Erklärung ist zwar anders als der Austrittsvertrag nicht rechtlich bindend. Sie könnte trotzdem als parteiübergreifende Notlösung herhalten.
Gibt es keine Einigung auf einen sanften Brexit, dann drohen die Briten am 12. April, am 22. Mai oder spätestens am 30. Juni ohne Abkommen aus der EU zu kippen. Oder sie müssen den EU-Austritt überhaupt auf die lange Bank schieben, was weder in der EU noch in Großbritannien für politisch sinnvoll gehalten wird. Denn dann müssten die Briten noch bei den EU-Wahlen am 23. Mai mitstimmen – eine Idee, die bei vielen britischen EU-Skeptikern zur akuten Magenverstimmung führen dürfte. Auch die EU ist nicht darauf erpicht, noch einmal britische Abgeordnete ins EU-Parlament gewählt zu bekommen, die eigentlich lieber aus der EU austreten als mitgestalten wollen.
Boris Johnson und Michael Gove bringen sich in Stellung
Bedrängt von allen Seiten versammelte Theresa May am Sonntag Minister und Brexitiere aus der Tory-Partei auf ihrem Landsitz Chequers, um sie noch einmal auf gemeinsames Durchhalten einzuschwören. Das Treffen blieb ohne Ergebnis.
In den sozialen Medien geht es allerdings längst nicht mehr um Mays Pläne. Der Hashtag #Resign war der Trend des Tages. Die partei- und regierungsinternen Konkurrenten Michael Gove, derzeit Umweltminister und Brexiteer, und Kanzleramtsminister David Lidington, ein Proeuropäer, werden am häufigsten genannt, wenn es um einen Ersatz für die glücklose Regierungschefin geht. Die beiden dementierten zwar eilig, dass sie gegen May putschen könnten. Doch der Montag begann mit der Titelzeile der Sun: „Deine Zeit ist vorbei, Theresa“. Die Regierungschefin solle ihren Rücktritt versprechen, im Gegenzug könnten ihre Feinde ihrem Abkommen mit der EU doch noch zustimmen.
Auf ihren Rücktritt wartet unter anderen auch Boris Johnson. Seit der ehemalige Außenminister wegen Mays Brexitplan im vorigen Juli ihr Kabinett verlassen hat, schießt er von den Hinterbänken des Parlaments rhetorisch oft unterhaltende, inhaltlich radikale Kommentare in Richtung der Premierministerin. Selbst einen Austritt ohne Abkommen kann er sich inzwischen vorstellen. In der Partei ist er deshalb recht unbeliebt, Tory-Wähler dagegen wollen ihn als Nachfolger von Theresa May sehen. In seiner Daily Telegraph-Kolumne für diesen Montag fordert er einen sofortigen EU-Austritt: „Es ist Zeit für die Premierministerin, im Sinne von Moses im „Exodus“ zum Pharao in Brüssel zu sagen: „Lass mein Volk endlich ziehen!“