"Die großen Themen des Lebens"
Esther Perel, New Yorker Guru der Beziehungstherapie, über die Schwierigkeiten mit der romantischen Liebe und wie man sie in Schwung hält.
Interview im profil vom 18.3.2019
Esther Perel, 60, ist der Superstar unter den Seelenklempnern. Nach Meinung der “New York Times” ist die belgische Psychologin “die Therapeutin des Volkes”. Die Paartherapeutin lebt und arbeitet seit 30 Jahren in New York. Die amerikanische “Girls”-Autorin Lena Durham meint: “Dem Himmel sei Dank für diese Frau!” Supermodel Cara Delevingne gesteht: “Sie ist der Guru in Beziehungsfragen und die erste Person, die ich um Rat fragen würde.”
Sieben Millionen Menschen sahen ihren TED-Talk auf Youtube. Über zehn Millionen hörten bisher weltweit ihren Podcast “Where do we begin?”, der auf Audible.de erhältlich ist. Die dritte Staffel des Podcasts “How’s work?” ist gerade in Vorbereitung und beschäftigt sich mit den Beziehungen am Arbeitsplatz. Ihr Buch “Die Macht der Affäre” war ein Bestseller in den USA. Es erscheint jetzt in 28 Sprachen und am 12. März auf Deutsch.
Esther Perel trifft profil vor Erscheinen der deutschen Ausgabe in London. Sie ist zu einem Vortrag in der “Central Westminster Hall” angereist. Ihr Gastgeber ist der britisch-schweizerische Philosoph Alain de Botton. Der Saal ist mit 2300 Fans bis zum letzten Platz gefüllt. Sie bekommen, was sie erwartet haben: einen interaktiven Workshop. Die energetische Frau springt fast ins Publikum vor Eifer und Vergnügen. Die zweifache Mutter und Ehefrau stellt Fragen, sie hört zu. Nicht nur Frauen strömen in ihre öffentlichen und privaten Therapiesitzungen. Vierzig Prozent sind Männer. In der ersten Reihe in London sitzt einer, der wissen muss, warum: Ehemann Jack Saul.
“Die Macht der Affäre. Warum wir betrügen und was wir daraus lernen können: Ein Buch für alle, die schon einmal geliebt haben.”, HarperCollins, 320 Seiten, 22 Euro. Erscheint am 12. März.
Perel: Wieso wollten Sie gerade über Untreue schreiben, ist da nicht schon alles gesagt?
Perel: Im Buch geht es eigentlich nicht nur um Untreue. Der deutsche Titel reduziert das Thema außerdem noch auf “Affären”. Mein Buch ist viel weiter gefasst. Es geht um moderne Liebe. Untreue ist nur der Fokuspunkt, weil sie das ganze menschliche Drama zeigt: Liebe, Sex, Leidenschaft, Eifersucht, Rache. Affären sind zum ersten Mal in der Geschichte der größte Grund für Scheidung geworden.
Profil: Wie kommt das?
Perel: Romantische Liebe war noch nie so normal wie heute. Die Leute wollen heute von ihren Beziehungen mehr als jemals zuvor in der Geschichte. Früher waren Beziehungen durch Regeln, Aufgaben und Pflichten bestimmt. Die großen Entscheidungen waren einem aus der Hand genommen. Heirat war die Norm, Sex folgte, dann die Kinder. Aber jetzt ist alles in Verhandlung: Soll man heiraten und wenn ja wann? Kinder ja oder nein und wenn ja, früh oder spät? Eines oder zwei?
Profil: Wenn man sich jetzt frei entscheiden kann, warum haben die Leute dann überhaupt Affären? Man kann sich ja trennen, wenn die Sache nicht funktioniert.
Perel: Genau darum geht es mir: Warum sind Menschen selbst in glücklichen Beziehungen bereit, alles zu riskieren? Früher suchte man Abwechslung, weil Ehen Liebe und Leidenschaft gar nicht bieten sollten. Heute ist es umgekehrt. Wenn die Beziehung nicht genug Liebe und Leidenschaft gibt, dann gehen die Menschen fremd. Wenn wir uns einen Partner aussuchen, dann wählen wir auch eine Geschichte. Manchmal findet man sich in einer Rolle von einem Stück wieder, für die man nicht vorgesprochen hat. Die Idee, dass man gelegentlich die eigene Lust für die Familie opfern muss, die ist aus der Mode gekommen.
Profil: Besonders bei Frauen?
Perel: Das Risiko ist für Frauen einfach nicht mehr so groß wie früher. Vor Erfindung der Pille war Verhütung viel schwieriger. Wirtschaftlich waren die meisten Frauen abhängig. Traditionell hat man gesagt: Männer betrügen, weil sie sich langweilen und Abwechslung brauchen. Und Frauen, weil sie sich nach Intimität sehen und einsam sind. Ich glaube, wir haben die Motive mit dem Ergebnis verwechselt.
Profil: Glauben Sie, Frauen und Männer sind sich viel ähnlicher als gedacht?
Perel: Wenn die Folgen die gleichen wären für Männer und Frauen, dann könnten wir Männer und Frauen vergleichen. Das war bisher nicht der Fall. Wir wussten einfach nicht, was Frauen wollten, weil sie bisher immer dazu gezwungen waren, das zu tun, was für sie und ihre Kinder das Sicherste war. Das heißt aber nicht, dass ihre Sehnsüchte anders sind als die der Männer. Deshalb war die Untreue bisher nie eine Option, die für beide Geschlechter gleich relevant war.
Profil: Sie glauben, hinter der Untreue steht mehr als Langeweile und Geilheit?
Perel: Männer waren oft im maskulinen Code gefangen. Vielleicht wollten sie nur Sex, um an das heranzukommen, was ihnen fehlte. Sex ist die lizensierte Sprache für Männer, um an eine ganze Palette an Emotionen zu gelangen, die für Männer nicht vorgesehen waren. Wir könnten also auch so auf die Dinge blicken: Männer und Frauen möchten sich verbunden fühlen, geliebt und begehrt.
Profil: Wie kann man vermeiden, dass man übersieht, dass man selbst oder der Partner die Lust verliert?
Perel: Das beginnt schon bei der Frage: Wie viel Sex braucht ein Mensch? Zwei Mal pro Woche im Durchschnitt? Worin genau aber besteht Sex? Ist die vom männlichen Sexualorgan getriebene Idee von Sex die einzig ausschlaggebende? Vielleicht gibt es noch ganz andere sensuelle Akte mit einem breiteren Spektrum an Verbundenheit. Zentral scheint mir zu sein, dass Sensualität gelebt wird, ohne dass es immer um “den Akt” geht.
Profil: Sie meinen eine weiblichere Sicht auf Sexualität?
Perel: Zuerst haben wir Sex von der Reproduktion getrennt, jetzt haben wir bereits die Reproduktion vom Sex abgelöst. Demnächst sind wir soweit, das Geschlecht von der Anatomie zu trennen. All das verändert unsere Vision von uns selbst und von unserer Rolle in der Gesellschaft. Um diese großen Veränderungen geht es.
Profil: Die biologischen Fakten stehen der Neuerfindung der Gesellschaft aber noch immer im Weg oder nicht?
Perel: Wie sehr ist eine Person von Testosteron getrieben und wie sehr von ihrer Geschichte, ihrer Kondition, ihrer Sozialisation, ihrer Selbstkritik, der Geschichte ihres Traumas, des Missbrauchs? Ich glaube, wir alle sind Produkte aus einer Kombination vieler Faktoren. Nehmen Sie eine Frau in der Menopause. Geben Sie ihr einen neuen Mann und eine neue Geschichte, dann braucht sie vielleicht gar keine Hormon-Ersatz-Medikamente. Übrigens: Bei der Mehrheit der Paare, die im Alter von 55 oder 60 keinen Sex mehr haben, liegt das am Mann und nicht an der Frau.
Profil: Wirklich?
Perel: Junge Männer sind es gewohnt, dass sie autonome, spontane Erektionen haben. Sie können zum Sex schreiten, ohne etwas zu tun. Das ändert sich, wenn sie älter werden. Sie müssen Medikamente gegen Prostatakrebs oder Diabetes oder Depression nehmen. Sie wissen nicht, was responsives Begehren ist. Sie werden in vielen Fällen denken: Ok, es geht nicht mehr. Statt: Es gibt Wege, wie man erregt werden kann und von dort aus beginnt die Interaktion. Die meisten Paare, die von sich behaupten, dass sie ein gutes Sexleben haben, sind nicht unbedingt sexuell aktiver, aber sie schätzen das, was sie gemeinsam haben und tun mehr als andere.
Profil: Sind Sie deshalb so erfolgreich, weil Sie als Europäerin mit amerikanischen Mitteln arbeiten? Sie haben schon vor Jahren über Facebook Paare aufgefordert, ihre Fälle zur Verfügung zu stellen.
Perel: Es gibt generell so einen enormen Bedarf für Gespräche über Beziehungen. Online Dating hat die gesamte Landschaft der Beziehungsaufnahme verändert. Leute haben so viel mehr Freiheit. Und auch mehr Unsicherheit. Mehr Selbstzweifel. Da komme ich dann und spreche nicht nur über eines der beiden Themen, sondern ich verbinde Beziehungen und Sex. Als Therapeutin arbeite ich mit vielen Paaren und ich sage ihnen nicht, was ich für richtig oder falsch halte, sondern ich helfe ihnen herauszufinden, was für sie gut wäre. Die schrulligen Typen haben genauso das Gefühl, dass ich zu ihnen spreche wie die konservativen. Manche sind ja auch beides gleichzeitig: “Kinky” UND konservativ.
Profil: Sie haben die Serie “The Affair” mit Dominic West und Ruth Wilson beraten. Was hat Sie daran interessiert, der ständige Perspektivenwechsel zwischen den vier Haupdarstellern?
Perel: Mich interessierte dabei auch der Diskurs über Maskulinität. Nicht nur, weil ich Söhne habe. Der moralische Code des Patriarchats ist sehr schwer zu knacken. Das Leben von Frauen wird sich nicht verändern, wenn sich das Leben der Männer nicht verändert.
Profil: Passen Sie Ihre Ratschläge an die jeweilige Kultur an?
Perel: Ja. Der japanische Verleger hat zum Beispiel gesagt, wir sollten das Kapitel über Monogamie streichen. Ich habe gefragt: Aber wieso denn? Er sagte, es sei den Leuten zu fern, darüber zu diskutieren, ob Monogamie oder konsensuelle Nicht-Monogamie für Leute gut sein kann. Ich habe zugestimmt, weil ich dachte: Der wird seine Leser besser kennen als ich.
Profil: Ihren Podcast “Where do we begin?” hören Millionen Menschen weltweit. Beuten Sie damit nicht Ihre Patienten aus?
Perel: Im Gegenteil. Ich hatte ja als Therapeutin immer das Problem, dass ich die Geschichten meiner Patienten nicht erzählen konnte. Im Podcast aber sprechen Paare von sich, die die Öffentlichkeit nicht scheuen. Sie sind nicht meine Patienten. Wir haben tausende Bewerbungen von Paaren, die beim Podcast mitmachen wollen. Die dritte Staffel beschäftigt sich mit breiteren Themen, Eltern, Kinder, Scheidung und Selbstmord. Der Podcast ist so erfolgreich, weil es nicht um Ausbeutung geht, sondern um die großen Themen des Lebens.
Profil: Was machen Sie, wenn die Chinesen oder Russen sie zensurieren wollen?
Perel: Ich glaube in diesen Ländern halten sie Untreue noch für eine männliche Domäne und diskutieren mein Buch deshalb gar nicht.
Profil: Gibt es in Europa einen Unterschied zwischen Ost und West hinsichtlich ihres Buches?
Perel: In Rumänien habe ich besonders viele Leser. Warum? Ich glaube, weil Rumänien eine der schlimmsten Formen des Kommunismus erlebt hat. Es war ein harsches Regime. Billiger Wein mit Mangelwirtschaft führte zu hoher Gewalttätigkeit gegen Frauen und Kinder. Die Rumänen brauchen jetzt ein neues Narrativ. Ich stand dort in einem Saal vor 1500 Leuten und habe die Männer gefragt: “Hat sich hier schon mal jemand in der Gegenwart eines anderen Mannes minderwertig gefühlt?” Ein paar Männer standen auf. Die Frauen haben angefangen zu applaudieren. Sie haben ihnen die Anerkennung gegeben, dass sie diesen Diskurs führen wollen. Das war toll. Denn ich glaube in diesen Ländern regierten die Männer und die Frauen reagierten mit Verachtung. Sie taten, was man ihnen aufgetragen hatte, aber mit zusamemngebissenen Zähnen. Sie wussten ja, was für Schlappschwänze da teilweise zugange waren. Die neue Generation ist anders, die haben schon viel verändert.
Profil: Und in Westeuropa?
Perel: In Westeuropa gibt es eine neue Generation von Männern, die verwirrter sind als je zuvor.
Interview: Tessa Szyszkowitz, London
Foto: Alex Schlacher