2016 zwang die Aktivistin Gina Miller die britische Premierministerin Theresa May, dem Parlament ein Mitspracherecht beim Brexit einzuräumen. Mit Sorge verfolgt sie jetzt, wie die Premierministerin mit den EU-skeptischen Hardlinern flirtet und damit auf einen harten Brexit zusteuert
Theresa May hat es erneut geschafft: Die britische Premierministerin hat eine Atempause von zwei Wochen gewonnen. Um die Einheit der Tory-Partei zu retten, hat sie sich dafür allerdings den Hardlinern der eigenen Partei ausgeliefert. Am Dienstag Abend stellte sich die Regierung im britischen Parlament hinter einen Antrag der harten Brexiteers. Dieser sieht nun vor, den „Backstop“, die Auffanglösung für Nordirland, durch „alternative Maßnahmen“ zu ersetzen. Theresa May soll das Scheidungsabkommen mit der EU neu verhandeln. In Brüssel herrscht Ratlosigkeit, was man der britischen Premierministerin anbieten könnte.
Direkt nach der Abstimmung im Parlament signalisierte Brüssel, dass es nicht in Frage komme, den Scheidungsvertrag neu zu verhandeln. „Das Abkommen ist der beste und einzige Weg, einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der EU zu vollziehen”, sagte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk. May aber setzt weiter darauf, dass die EU Zugeständnisse macht. Eine, die ihre Strategie von Anfang an bekämpft hat, ist Gina Miller. Die aus Guyana stammende Britin strengte 2016 ein Gerichtsverfahren gegen die britische Regierung an, um die Mitsprache des Parlaments zu erkämpfen. Theresa May wollte den Brexit ursprünglich am Parlament vorbei verhandeln. Der Hohe Gerichtshof in London gab Miller damals recht: Das Parlament bekam „eine sinnvolle Abstimmung” über den Brexitvertrag zugesprochen.
Den inzwischen tobenden Kampf der Parlamentarier gegen die Regierung bewertet Miller als Erfolg. Die Entwicklung des Landes seit der Brexit-Entscheidung aber sieht sie kritisch. Im Interview mit Cicero stellt sie ihre neue Initiative vor: „Lead not leave“, frei übersetzt: „Führen, nicht fliehen“. Diese soll zum Zug kommen, wenn Theresa May den Brexitprozess an die Wand gefahren hat und der Artikel 50 entweder verschoben oder ausgesetzt werden muss."
Frau Miller, ist es nicht ein bisschen spät, die Briten jetzt noch aufzufordern, in der EU zu bleiben?
Wir müssen den Briten eine Alternative zum Brexit-Chaos anbieten. Wir könnten den Brexit absagen und gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten an Reformen arbeiten, die nicht nur wir, sondern auch viele andere wollen. Zum Beispiel: Eine Notbremse für EU-Einwanderung, die man für sechs Monate beschränken könnte, sollten die sozialen Systeme überlastet sein. Damit wären unter Umständen andere EU-Mitgliedsstaaten auch einverstanden. Großbritannien sollte in der EU für diese Reformen kämpfen und nicht davonlaufen.
Könnte eine zweite Volksabstimmung diese Frage am Besten klären?
Ich fürchte, dass ein zweites Referendum kein besseres Resultat bringen würde. Die Leute haben die langwierige Brexitdebatte satt, viele wollen jetzt sogar schon einen „No Deal“. Wir haben Umfragen gemacht zu unserer Initiative „Lead not lead“, und es ist so: 72 Prozent der Jungen sind dafür, 65 Prozent der Alten wollen lieber gar kein Abkommen. Ein zweites Referendum könnte nach hinten losgehen.
Theresa May scheint eher darauf zu setzen, dass das Parlament am Ende ihrem Deal zustimmt, um ein „No-Deal-Szenario“ zu vermeiden.
Ja genau, und das könnte auch noch klappen. Denn niemand will das völlige Chaos. Ich halte diese Gelassenheit aber für äußerst gefährlich. Was, wenn Theresa May ihren Plan im Februar nicht durchs Parlament bekommt? Dann stehen wir vor einer Katastrophe. Das Parlament hat zwar gesagt, dass es einen „No-Deal“ nicht will, aber dann müsste es dahingehend ein Gesetz verabschieden, damit das legal verhindert wird. Denn bisher ist das Austrittsdatum vom 29. März 2019 ja im britischen Gesetz festgeschrieben.
Gibt es noch einen Ausweg?
Ich werde es sicher nicht zulassen, dass die Regierung die eigene Bevölkerung derart gefährdet. Aus der EU ohne Abkommen herauszufallen, wäre eine Katastrophe. Deshalb haben wir legale Schritte vorbereitet, um die Regierung zu zwingen, diesen Notfall abzuwenden. Eine Aussetzung von Artikel 50, der Austrittsklausel im EU-Vertrag, wäre eine Möglichkeit. Das gibt der Premierministerin aber nur eine kurze Atempause. Das Problem ist: Wenn Theresa May scheitert, dann wollen die Tory-Hardliner einen der ihren zum Partei- und Regierungschef küren. Dann steht uns jemand wie der zurückgetretene Brexit-Minister Dominic Raab ins Haus.
Er gehört einer jungen Generation von sehr EU-skeptischen Konservativen an. Würde das Verhandlungen mit Brüssel erschweren?
Je härter die Brexiteere jetzt auftreten, umso mehr schaden wir uns. Wenn ich heute in europäischen Hauptstädten bin, fällt mir auf: Wir Briten verspielen unsere Glaubwürdigkeit. In den vergangenen Jahren hat unsere politische Klasse viel Schaden angerichtet. Wir sollten uns endlich um die Probleme kümmern, die wir im Land haben. Hier steht ja alles still, weil wir vom Brexit so blockiert sind.
Fürchten Sie, dass sich die politischen Lager weiter radikalisieren?
Mich erschreckt, dass die politische Klasse die Radikalisierung der Ränder nicht stoppt. Im Gegenteil, manche Politiker verwenden die gleichen Begriffe wie die Hooligans auf der Straße. Sie sprechen von Tyrannei, von Vasallenstaat, von der EU als Nazis. Im Dezember kam es so weit, dass ich nach einem BBC-Interview vor dem Westminsterpalast über die Straße ging und ein paar Demonstranten im Chor sangen: „Vergast Gina Miller!“ Die Polizei schritt nicht ein. Nichts passierte. Die Leute scheinen solche Todesdrohungen für normal zu halten. Das sollten wir nicht zulassen.