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Tschechow light

London. Die eine hüpft, die zweite sinnt sarkastisch vor sich hin, die dritte jammert. Tschechows “Drei Schwestern” sind wieder da. Das “Hampstead Theatre” in London hat ein neues Tschechow-Stück uraufgeführt. Es ist die Theatersensation dieses Frühlings. Weit über London hinaus. Der Tschechow-hungrigen Theaterwelt bietet sich ein neuer Stoff zur Aufführung an.

Varia

Bestseller-Autor William Boyd (“Restless”) hat zwei Tschechow-Kurzgeschichten – “Mein Leben” und “Besuch bei Freunden” – in den Zweiakter “Longing” verwoben. Dem kleinen, feinen “Hampstead Theatre” ist damit nach dem Oscar-Wilde-Stück “The Judas Kiss” mit Rupert Everett bereits der zweite Tophit innerhalb einer Spielsaison gelungen. “Longing” – in der Regie von Boris Pasternaks Großnichte, der Dramatikerin Nina Raine - ist bis zum 6. April restlos ausverkauft.

Tschechow-Fans können sich entspannt zurücklehnen. “Longing” sieht sich so vertraut an, als wäre man selbst zu Besuch beim alten Anton Pavlowitsch auf der Datscha. Neben den “Drei Schwestern” sehen wir den fidelen und unsensiblen Emporkömmling mit seiner vulgären Tochter – und ducken uns unter die Zweige des “Kirschgarten”. Über all dem liegt das Grundthema der “Möwe”: Alle lieben irgendwen, aber immer den falschen. Vielleicht fehlt “Longing” ein wenig die Tiefe, die Tschechows Stücke von seinen Kurzgeschichten unterscheidet. Wir wohnen einer Art Tschechow-Medley bei, lassen “Tschechow light” in uns reinlaufen.

Wie bei Tschechows echten Stücken nerven die heulenden Frauen ein bisschen, auch die ewig saufenden Männer, die ihrer Frauen Vermögen vertun. Boyd gelingt mit fast schon aufdringlicher Leichtigkeit, Tschechows Originalton zu treffen: die Vergänglichkeit des Sommers, der Liebe, der Schönheit; der drohende Untergang der Ordnung, der Gesellschaft, der gewohnten wirtschaftlichen Verhältnisse.

Dabei ist “Longing” tschechowscher als Tschechow. Das Bühnenbild der Londoner Uraufführung ist bis auf die lichtgrüne, fast fahle Farbe des Datschagrases superrussisch und detailgenau. (Nur die farbigen Partylaternen im zweiten Teil sehen en bisschen nach “Interio” aus.) Insgesamt aber steht die Datscha in Nordlondon auf der Bühne, als wäre sie seit über 100 Jahren von Tschechows Figuren bewohnt. Auch die englischen Schauspieler sind dieser “Uraufführung” vollkommen gewachsen. Tamsin Greig beeindruckt als einsame, kluge Ärtzin Waria, die sich fast den Mut heraus nimmt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Fast.

Als in der Datscha auf der Bühne die Lichter ausgehen, bleibt bloß eine Frage offen: Wer bekommt die Rechte zur deutschen Uraufführung?

 

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© 2018 Tessa Szyszkowitz