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Ruhige Minute mit Marina Abramovic

1. Photograph by Marco Anelli 2014

Die serbische Kultkünstlerin spielt meine Yoga-Lehrerin in der Londoner Serpentine-Galerie.

“Langsam atmen”, befielt sie und streichelt meine Schulter. Nicht schlecht für den Anfang einer Yoga-Stunde, denke ich. Aber halt: Das ist nicht meine Yoga-Lehrerin. Die Frau mit dem sanften Touch und dem serbischen Akzent ist Marina Abramovic.

Es ist ein sonniger Junitag im Hyde-Park und Marina Abramovic hat gerade ihre Show “512 Stunden” in der Serpentine-Galerie eröffnet. Es geht um: Nichts. Leider. Das Problem mit dem Thema ist ganz offensichtlich. Die Künstlerin wird 512 Stunden lang in der leeren Galerie auf Besucher warten und ist bereit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ich bin ja persönlich leicht zu unterhalten, also gehe ich mal neugierig hinein. Taschen müssen weggesperrt werden und die Erklärung der Sicherheitsleute ist etwas langatmig, aber gut. Es ist ja modern, das Iphone gelegentlich zurückzulassen, um mit dem inneren Selbst in Kontakt zu treten. Oder mit Marina Abramovic.

Dutzende andere Besucher sind bereits da und gehen oder stehen in den Räumen herum. Abramovic schnappt sich meine Tochter und gibt ihr einen Spiegel, mit dem in der Hand sie rückwärts schreiten und sehen soll, was passiert. Zusammenstöße, unvermeidbare. Aber hier sind alle so bedacht, da kommt es nicht zu Verletzungen.

Dann kommt Marina zu mir und führt mich an ihrer kalten Hand herum. Endlich findet sie den richtigen Ort, bittet mich stehenzubleiben und die Augen zu schließen. “Fühle die Einfachheit des Lebens”, flüstert sie, “Spüre die Ruhe der Umgebung”. Ich folge ihren Anweisungen. “Atme langsam.”

Ich muss zugeben, ich kann es brauchen. Es ist Donnerstag, meine Eltern sind aus Wien zu Besuch gekommen, weil mein ältester Sohn gerade mit der Mittelschule fertig geworden ist. Wir amüsieren uns prächtig, dazu kommt die Arbeit. Am Morgen habe ich eine Historikerin interviewt, die die traurige und grausame Geschichte von 796 Kleinkindern recherchiert hat, deren Gerippe hinter dem (inzwischen geschlossenen) Heim für ledige Mütter in der irischen Kleinstadt Tuam gefunden wurden. Catherine Corless hat Mut und Standfestigkeit bewiesen, dem lächerlich konservativen katholischen Umfeld die Stirn zu bieten und vorzuführen, welche Verbrechen im Namen der katholischen Familienmoral begangen worden sind. (Siehe www.profil.at) die ruhige Minute mit Marina Abramovic vor dem Mittagessen im Park kommt mir wie gerufen.

Ob ihr jüngstes Projekt allerdings ihren Kultstatus verstärken wird, wage ich zu bezweifeln. Ihr letztes Kunststück “The Artist is present” im Museum of Modern Art in New York genoß enormen Zuspruch. “Die Großmutter der Performance-Art” (Selbstbeschreibung) ist seit den wilden Siebzigern einen langen Weg gegangen. Ich war zu jung, um ihre frühen Performances zu sehen. Doch die Videos ihrer Schrei-Duelle mit dem damaligen Partner Ulay, die in der Lisson Gallery kürzlich gezeigt wurden, hatten ihre eigene Energie. Ihr selbstverletzungsgefährdeten Inszenierungen – sie lud Zuschauer ein, sie mit gefährlichen Instrumenten zu traktieren – sprachen von einem starken Wunsch, die Regeln und das Verständnis von Interaktion grundsätzlich in Frage zu stellen und zu verändern. Ich habe großen Respekt für Marina Abramovic. Und auch vor ihr als 67jähriger Frau, die die Ruhe genauso radikal angeht wie einst die Konflikte. Im Vergleich zu ihren frühen Arbeiten ist “512 Stunden” aber wohl nicht das spannendste Projekt.

Bevor sie ihre Hand von meiner Schulter nimmt, flüstert sie noch: “Bleib solange du willst.” Ich atme ein bisschen langsam vor mich hin, renne dann aber gleich wieder hinaus in den hellen Sonnenschein des Hyde-Parks. Dort sitzt mein neunjähriger Sohn und wartet auf uns – er ist für die Erfahrung der Ruhe von Marina Abramovic zu jung. Die Altersgrenze ist 12.

http://www.serpentinegalleries.org/exhibitions-events/marina-abramovic-512-hours

https://www.artsy.net/artist/marina-abramovic-1

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© 2018 Tessa Szyszkowitz