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“Goldenes Zeitalter für Islamisten”

Abdel+Bari+Atwan

Al-Kaida Experte Abdel Bari Atwan über ISIS, die neue Generation militanter Islamisten, und ihr Gefahrenpotentialfür Europa.

Abdel Bari Atwan, 64, war von 1989 bis 2013 Chefredakteur der wichtigsten pan-arabischen Diasporazeitung “Al-Quds al-Arabi” in London. Geboren in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Gazastreifen zog Atwan nach dem Studium an der Universität in Kairo 1979 in die britische Hauptstadt. Er hat mehrere Bücher geschrieben, sein jüngstes befasst sich mit der zweiten Generation der Al-Qaida: “After Ben Laden: Al-Qaeda – The next generation” (Saqi Books 2012, London).

Profil: Was ist der Unterschied zwischen der Al-Qaida von Osama bin Laden und der neuen Generation von ISIS-Kämpfern?

Abdel Bari Atwan: Die zweite Generation der Islamisten ist ganz anders als die erste. Osama bin Laden war von Antiamerikanismus getrieben. Er schuf al-Qaida, um gegen die amerikanischen Truppenpräsenz in Saudi-Arabien zu kämpfen. Der heilige Krieg erreichte auch Amerika. Die meiste Zeit aber operierte Al-Qaida im Exil, in Afghanistan, weit weg vom Nahen Osten. Mit ISIS ist das jetzt ganz anders. Die wollen einen islamistischen Staat im Zentrum der muslimischen Welt aufbauen. Nicht nur das. Die wollen ein islamisches Kalifat im Herzen Arabiens schaffen. Zu Hause unter den eigenen Leuten haben sie viel größeren Zuspruch als al Quaida früher unter Osama bin Laden.

Profil: Nicht jeder will ein Kalifat im Irak.

Abdel Bari Atwan: Nicht jeder, das stimmt. Doch gescheiterte Staaten wie Syrien, Irak, Libyen oder der Jemen sind extrem fruchtbarer Boden für die Islamisten. ISIS blüht und gedeiht unter diesen Bedingungen. Besonders ideal sind gescheiterte Staaten für Organisationen, die finanziell gut ausgestattet und unabhängig sind.

Profil: Wird es im Irak einen langen Bürgerkrieg geben oder bricht das Land bald in drei Teile auseinander?

Abdel Bari Atwan: Es gibt sicher einen Bürgerkrieg. ISIS ist nicht bloß eine Truppe von fanatischen Gotteskämpfern. Die haben eine militärische Kommandostruktur. Einige von Saddam Husseins alten Generälen haben sich auf die Seite der Islamisten geschlagen. Einige sind wirklich religiös geworden, aber andere sind bloß aus strategischen Gründen übergelaufen. Der Feind des Feindes ist ihr Freund.

Profil: Wieso ist ISIS finanziell so unabhängig?

Abdel Bari Atwan: Zuerst floß viel Geld aus Saudi-Arabien und aus Qatar zu den islamistischen Rebellen. Bald fingen sie ihre eigenen Geschäfte an: Sie entführten ausländische Journalisten und forderten Lösegeld. Dann eroberten sie Ölfelder im Osten Syriens, in Libyen, jetzt auch im Irak. Seit sie Mosul überrannt haben, schwimmen sie überhaupt in Geld, weil sie aus den Banken in Mosul eine halbe Milliarde Dollar geraubt haben. Außer auf Geldbergen sitzt ISIS auf Haufen von Waffen. Waffen kommen von überall her. Wenn sie nicht in Syrien oder dem Irak die Regierungstruppen bestehlen, dann bekommen sie noch Waffen über die Türkei geliefert. Die haben kein Problem mit Nachschub.

Profil: Sie können sich auch nicht darüber beklagen, dass sie zu wenige todesbereite Kämpfer hätten…

Abdel Bari Atwan: Dies ist das Goldene Zeitalter für Islamisten. Sie haben viele heißköpfige junge Leute aus der ganzen moslemischen Welt eingesammelt. Syrien und der Irak sind ein Magnet für diese Männer. Al-Nusra in Syrien, ein Ableger der ISIS, lädt junge Moslems aus der ganzen Welt ein – aus Tschetschenien, aus Bosnien oder aus Großbritannien. Profil: Wie viele ausländische Kämpfer hat ISIS?

Abdel Bari Atwan: Ich glaube, die Zahlen, die genannt werden, sind sehr übertrieben. Vielleicht 4.000 ausländische Kämpfer? Die kamen aber nicht geradwegs aus Österreich oder Großbritannien in den Irak, die waren vorher schon in Syrien.

Profil: Ist ISIS nur ein lokales Pänomen im arabischen Kernland?

Abdel Bari Atwan: Zuerst werden sie sich überall im Nahen Osten ausbreiten. Dann wird der Naher Osten zum Sprungbrett in die Welt. Bedenken Sie den Unterschied zu Osama bin Ladens erster Generation von al Qaida-Kämpfern. Er hatte nur eine Hundertschaft. Am Ende war er bankrott. ISIS aber verfügt über eine Armee von wütenden jungen Männern. Sie haben haufenweise Waffen und Geld. Die brauchen nicht mehr auf einen Scheck aus Saudiarabien zu warten.

Profil: Es war ein Syrien-Kämpfer, der einen Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel verübte. Wird ISIS den heiligen Krieg auch nach Europa bringen?

Abdel Bari Atwan: Die europäischen Staaten haben einen großen Fehler gemacht, als sie die Rebellion gegen Bashar al-Assad in Syrien bedingungslos unterstützt haben. Der britische Premierminister David Cameron war der erste, der das Waffenembargo aufheben wollte, damit die Rebellen gegen Assad kämpfen konnten. Man kann jetzt nicht einfach nur den jungen Leuten die Schuld geben, die daraufhin in diesen Krieg gezogen sind.

Interview: Tessa Szyszkowitz/London

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© 2018 Tessa Szyszkowitz