Uri Avnery, Galionsfigur des israelischen Friedenslagers, kann sich als ehemaliger Terrorist in die Führung des Gazastreifens hineindenken.
Uri Avnery, 90, fordert seit Jahrzehnten einen unabhängigen Palästinenserstaat neben Israel. Der aus Deutschland stammende unermüdliche Friedensaktivist hatte vor der Staatsgründung Israels 1948 im Untergrund für einen unabhängigen Staat Israel gekämpft. Seine Friedensgruppe „Gusch Shalom“ gehört zu den ganz wenigen Stimmen in Israel, die sich gegen den Krieg in Gaza aussprechen.
profil: Eine große Mehrheit in Israel unterstützt die jüngste Gaza-Offensive, obwohl dort viele Zivilisten und Kinder getötet wurden. Warum demonstrierten so wenige gegen diesen Krieg?
Avnery: Selbst das zionistische linke Friedenslager hat diesen Krieg unterstützt. Die Rechtfertigung ist einfach: Hamas beschießt uns mit Raketen, da müssen wir uns verteidigen. Jede Reaktion ist allerdings eine Vergeltung für etwas, das schon vorher passiert ist. Wer hat den Konflikt begonnen? Theodor Herzl. Wir können bis zum Anfang der zionistischen Bewegung 1882 zurückgehen. Aber das nützt uns nichts. Wir müssen mit unseren Feinden Frieden machen. Der Feind heute heißt Hamas. Also muss man sich mit der Hamas hinsetzen und Frieden aushandeln.
profil: Hamas aber erkennt Israel nicht an. In Israel wird oft erwähnt, dass Hamas die Hilfsgelder aus Europa in Zement für Terrortunnel investiert hat statt Schulgebäude zu bauen. Wie soll man mit so einer Führung verhandeln?
Avnery: Als Palästinenser würde ich das anders sehen. Für die Palästinenser in Gaza geht es vornehmlich darum, die Blockade zu brechen, die Israel über Gaza verhängt hat. Das ist doch eine Hundeleben. Deshalb unterstützen die Leute in Gaza heute Hamas, weil diese Bewegung gegen Israel Widerstand leistet. Da ich selbst mal Terrorist war, fällt es mit vielleicht leichter, mich in die Hamas hineinzuversetzen.
profil: Sind Terroristen die besten Friedensmacher?
Avnery: Gewöhnlich ja. Man macht ja nicht Frieden mit seinen Freunden, sondern seinen Feinden. In Gush Shalom haben wir vor acht Jahren Aufkleber gedruckt: Redet mit der Hamas! Aber natürlich hat uns die Regierung nicht geglaubt. Was passiert heute in Kairo: Da sitzen die palästinensischen Verhandler von Abu Mazen, dem Palästinenserpräsidenten und Fatah-Chef, den keiner mehr ernst nimmt, weil er die Waffen gegen Israel niedergelegt hat und dafür nur mehr israelische Siedlungen bekommen hat. Der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi, der gerade auf die scheußlichste Weise wieder eine Militärdiktatur in Ägypten eingeführt hat, ist der Vermittler. Israel und die Hamas, die gegeneinander Krieg führen, reden nur indirekt miteinander. Das ist doch eine groteske Situation. Israel könnte sehr gut mit der Hamasführung direkt einen Waffenstillstand aushandeln, das ist so im Krieg. Da verhandeln die Generäle.
profil: Dieser Logik folgt in Israel nur eine kleine Minderheit. Wie kommen beide Seiten denn jetzt an einen Verhandlungstisch, wenn die einen die anderen nur als Terrororganisation wahrnehmen?
Avnery: Das wird schwer. Doch es ist immer schwer im Krieg. Die Vernunft sagt: Du kannst die Bevölkerung nicht für ewig unter einer Blockade halten. Wenn man dem Gazakrieg ein Ende setzen will, muss man die Blockade aufgeben - nicht nur die Grenzübergänge nach Israel und Ägypten, sondern auch einen Seehafen bauen und den Flughafen wieder aufbauen. Dabei kann die internationale Gemeinschaft helfen.