Jim Farquharson: "Wir haben das Recht auf Unabhängigkeit."
Am 18. September stimmen die Schotten in einem Referendum über ihre Unabhängigkeit von Großbritannien ab.
Der Drang nach Freiheit beginnt in der Gebärmutter. „Am 18. September 2014 ist mein Geburtstag“, sagt eine Stimme aus dem Off. Im Bild ist ein Embryo im Ultraschall zu sehen. „Will ich als kleines Mädchen immer noch von Westminister regiert werden? Oder möchte ich über mein eigenes Schicksal bestimmen?“ sinniert das ungeborene Kind. Die Antwort am Ende des Fernsehspots ist so einfach wie erwartbar: „Yes!“ – zur Unabhängigkeit Schottlands.
Am 18. September werden rund vier Millionen wahlberechtigte Schotten per Referendum darüber abstimmen, ob ihr Land wie seit 1707 Teil Großbritanniens bleibt oder ein unabhängiger Staat werden soll. Die Separatisten unter der Führung der „Scottish National Party“ (SNP) von First Minister Alex Salmond kämpfen beherzt um jede Stimme. In Umfragen wächst das separatistische Lager beständig. Derzeit stehen 43 Prozent Ja-Sager einer schweigenden Mehrheit von 57 Prozent gegenüber, die nicht an eine bessere Zukunft als Kleinstaat glauben.
Jim Farquharson steht im Garten seines Hauses in Dunphail und streicht „Yes“-Schilder mit weißer Farbe an. „Jede Nation hat das Recht auf Unabhängigkeit“, sagt der pensionierte Taxifahrer: „Warum sollen wir Schotten nicht in einem eigenen Staat leben?“ Der Pensionist zeigt auf die Löcher an seinem Schottenrock: „Das ist natürlich nur mein Arbeitskilt“, sagt er beschämt, kehrt dann aber gleich wieder zur Politik zurück: „Im Übrigen hassen wir Schotten Nuklearwaffen, die können sich die Engländer nach dem 18. September gleich abholen.“
Das Beste am Referendum ist eindeutig, dass es überhaupt stattfinden darf. Es stellt den Briten ein gutes Zeugnis aus, dass sie den separatistischen Schotten erlauben, auf demokratischen Weg über ihren zukünftigen Weg zu entscheiden. Das ist sonst auf der Welt nicht der Fall (siehe Kasten). Die Engländer hoffen natürlich, dass die Schotten in der Union bleiben. Sonst verliert das Vereinigte Königreich ein Drittel seiner Landmasse, knapp ein Zehntel seiner Bevölkerung und den Zugriff auf Öl- und Gasvorkommen vor der schottischen Küste.
Großbritannien wäre nur noch Kleinbritannien und der Union Jack, die britische Flagge, die jetzt noch demonstrativ über dem Schloss in Edinburgh weht, müsste nicht nur in Schottland eingezogen werden. Fällt das blau-weiße Diagonal-Kreuz der Schotten weg, bleiben von der britischen Flagge nur die roten Kreuze Englands und Irlands. Um die Schotten in der Union zu halten, stimmte London schon 1979 und 1997 zwei Referenden zu, in denen es um mehr Selbstverwaltung ging. Die sogenannte „Devolution“ brachte den Schotten weitgehende Autonomie in Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialfragen. An schottischen Universitäten studieren Schotten zum Beispiel umsonst, während in Britannien für alle mit 11.000 Euro pro Jahr exorbitante Studiengebühren anfallen.
„Wir Schotten wollen unser eigenes Land aufbauen!“, meint Angus Robertson von der „Scottish National Party“ (SNP). Wie die meisten Schotten hat er eine sozialdemokratische Agenda. Schottland ist seit Thatchers Hochphase in den Achtzigerjahren weitgehend links eingestellt. Nur ein konservativer Abgeordneter vertritt heute neben 40 Labour-Parlamentariern, elf Liberalen und sechs Nationalisten einen schottischen Wahlkreis im britischen Unterhaus. Im schottischen Regionalparlament sitzen auch nur knapp zehn Prozent Tories. Robertson hat eine deutsche Mutter und verbrachte einige Jahre in Wien, wo er einst seinen ersten Artikel für „profil“ schrieb. Inzwischen ist der ehemalige Journalist britischer Abgeordneter für die Region Moray in Nordschottland und betreibt eifrig die Abspaltung. Wenn er nicht gerade Journalisten trifft, wirft er Yes-Flugblätter durch Briefschlitze.
„Wir schicken unsere Soldaten in Kriege, die uns nichts angehen“, meint Robertson. „Wir sollten uns lieber darum kümmern, unsere Grenzen zu schützen.“ Schottland würde seine eigene Armee erhalten. Robertson will dafür das Verteidigungsbudget erhöhen. Dafür könne man die an der schottischen Küste außerhalb von Glasgow liegenden vier britischen U-Boote mit Atomwaffen vom Typ Trident in den Süden zu den Engländern schwimmen lassen. Die „Schottische Nationalpartei“ hat das Verbot von Nuklearwaffen zu einem zentralen Thema der Unabhängigkeitsbewegung gemacht.
Soll Schottland unabhängig werden, um mehr Geld in eine eigene Armee zu investieren? Viele Yes-Fans wollen dies nicht, sie stammen eher aus dem grünen Lager. „Ich möchte lieber die Windenergie ausbauen“, meint eine Studentin, die nur anonym über Politik reden will. Sie arbeitet in einer Mühle in den Highlands, in der wie anno dazumal Decken auf alten, vom Mühlrad betriebenen Webstühlen gewebt werden.
Die Regierung in Edinburgh setzt sich schon bisher dafür ein, dass bis 2020 die Hälfte der schottischen Energieversorgung von Windturbinen erzeugt wird. Die junge Müllerin wählt grün. „Es gibt aber keine Chance, dass wir jemals einen grünen Abgeordneten ins britische Parlament wählen können“, erklärt sie. Großbritannien hat ein Mehrheitswahlrecht, das kleine Parteien benachteiligt. Die Schotten dagegen stimmen seit 1999, als sie erstmals ihr Regionalparlament wählen durften, nach einer Art Proporzsystem, dem „Additional Member System“ ab. „Deshalb“, sagt sie abschließend, „werde ich beim Referendum mit Ja stimmen“.
Der schottische Nationalismus bekam erst dann Zulauf, als Ende der Sechzigerjahre vor der Küste Schottlands Öl und Gas entdeckt wurde. Plötzlich waren die Schotten in ihren kalten und windigen Highlands nicht mehr die Armen Britanniens.
„Es ist Schottlands Öl!“, plakatierte die SNP schon in den Siebzigerjahren. Heute könnten sie reich sein wie die Norweger, die ebenfalls vor vierzig Jahren Öl gefunden haben und es in ein soziales, egalitäres politisches System investiert haben. 40 Milliarden Barrel Öl sind bereits aus dem Meeresboden gewonnen worden, die Yes-Kampagne rechnet mit 24 Milliarden Barrel mehr. Ende August warnte allerdings der angesehenste Ölexperte Schottlands Sir Ian Wood, dass die Separatisten die Ölreserven bis zu 60 Prozent zu hoch eingeschätzt hätten: „Die bisherigen Angaben sind vollkommen unrealistisch.“ Norwegische Verhältnisse? Dazu ist es wohl zu spät.
Deshalb fragen sich trotz der intensiven Yes!-Kampagne immer noch eine Mehrheit der Schotten, was ein vollständig unabhängiges Schottland überhaupt bringen könnte. Denn auch die Separatisten wollen die Queen und das britische Pfund behalten. Schottland will in der EU, der UNO und der NATO bleiben, außerdem sollen keine Grenzen zwischen England und Schottland eingeführt werden. „Im Herzen sind wir alle überzeugte Schotten“, sagt Unternehmer Norman MacGeoch, „aber ich finde, wir dürfen unseren Kopf bei der Entscheidung nicht ausschalten.“
Sowohl für Schottland wie auch für England war die Einheit über 300 Jahre lang fruchtbar: Das Vereinigte Königreich war ein Imperium. Ein Drittel der Gouverneure des britischen Kolonialreiches waren Schotten. Heute ist Großbritannien mit 60 Millionen Einwohnern immer noch ein wichtiges Mitglied der Europäischen Union. „All das würden wir verlieren“, seufzt MacGeoch und streichelt die Labradorhündin Millie. Der Hotelier aus Knockando hat mit seiner Familie sechzehn Jahre in England gewohnt, jetzt ist er wieder da - sein 16jähriger Sohn Calum aber spielt für Team GB Tennis. „Wenn die Schotten sich unabhängig erklären würden, für wen soll er dann spielen?“ MacGeoch wird mit „Nein“ stimmen, er will lieber Brite bleiben: „Schotten sind wir sowieso. Und wozu sollen wir etwas kaputt machen, was bisher gut funktioniert hat?“
Das finden auch die Whiskybrenner. Sie zogen sich einst mit ihren Destillen in die unzugänglichen schottischen Highlands zurück, um sich vor den englischen Steuereintreibern zu verstecken. Whisky wird seit dem Ende des 15. Jahrhunderts aus Weizen, Gerste und schottischem Quellwasser gewonnen. Heute sind einige dieser einst klandestinen Destillerien in der Speyside-Region die erfolgreichsten Exporteure Schottlands. Bei Glenfiddich – dem Whisky mit der dreieckigen grünen Flasche – außerhalb von Dufftown steht ein Schild am Parkplatz, das benebelte Touristen nach dem Verkosten in vielen Sprachen daran erinnern soll, dass in Schottland links gefahren wird.
Whisky zieht nicht nur Horden von Besuchern an, schottischer Whisky ist ein internationaler Verkaufsschlager und wird – im Wert von fünf Milliarden Euro allein im Jahr 2013 - in alle Welt exportiert. Kein Wunder, dass die Besitzer zu den Unterstützern der „Better-Together“-Kampagne zählen. Die Familie Grant hat sogar öffentlich Geld gespendet, um dafür zu sorgen, dass Schottland in Großbritannien bleibt: „Der schottische Whisky profitiert von der britischen Regierung und seinem Netzwerk an Handelsvertretungen weltweit“, heißt es in einer Erklärung der Glenfiddich-Produzenten, „auch das Fehlen von Handelsbarrieren innerhalb der EU kommt uns zugute“.
Gary Williamson kann dem nur zustimmen. “Wir sind doch eindeutig in der stärkeren Position, wenn wir zusammenarbeiten”, findet der Schrotthändler aus Forres. Zwischen Bergen von Metallteilen steht der stolze Schotte und findet es jämmerlich, dass Politiker eine Kampagne für einen unabhängigen Staat betreiben, in dem nichts geklärt ist: “Wir wissen nicht mal, welche Währung wir hätten! Die können dann doch nachher nicht sagen: Oh, sorry, wir haben das alles nicht ernst gemeint.”
Die britische Reigerung in Westminster steht bisher auf dem Standpunkt, dass die Schotten im Falle ihrer Unabhängigkeit das britische Pfund nicht behalten dürfen. Was gibt es sonst für Optionen? Der schottische Ökonom Gavin McCrone warnt: “Für den Euro ist Schottland überhaupt nicht qualifiziert: Staatsverschuldung und Staatsdefizit sind bei uns jenseits der Kriterien.” Das wahrscheinliche Szenario, meint McCrone: “Ein schottisches Pfund, das an das britische gebunden ist.”
Auch sonst soll sich in einem unabhängigen Staat eigentlich nicht viel ändern. Schottland will um Mitgliedschaft in allen internationalen Organisationen neu ansuchen, denen es als Teil Großbritanniens jetzt bereits angehört. UNO, Nato, EU – mit dem Unterschied, dass Schottland mit seinen fünf Millionen Einwohnern dort dann weniger Einfluss als Österreich hätte. Heute dagegen sitzen die Schotten als Briten mit einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat. Auch in der EU fürchten schottische Unionisten wie Schrotthändler Williamson um den Status als “erstzunehmene Macht. Daran sind wir doch seit Jahrhunderten gewohnt.”
Auch die Prominenz wurde bereits in die Schützengräben der Propagandaschlacht gezogen. Vor engstirniger Kleinstaaterei fürchtet sich Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling: “Ich warne vor Nationalisten, die alle dämonisieren, die kritisch zur schottischen Unabhängigkeit stehen.” Die britische Autorin lebt seit 21 Jahren in Edinburgh, ist daher wahlberechtigt und hat eine Million Pfund für die “Better-Together”-Kampagne gespendet. Schauspieler Sean Connery, der gern im Schottenrock posiert, hält dagegen, dass in einem unabhängigen Schottland ein “faireres” Land entstände.
„Das Referendum wird auf jeden Fall der Katalysator für einen Wandel“, meint Bäckermeister Lewis MacLean, „das britische politische System ist doch moralisch korrupt“. Wenn Lewis nicht in seiner „Highland Bakery“ Brotteig knetet, dann setzt er sich neuerdings für ein souveränes Schottland ein: „Die in London hören doch längst nicht mehr auf uns.“
Viele Engländer würden ihm zustimmen. Außerhalb der Hauptstadt London teilen viele das Gefühl, dass die konservative Regierung in Westminster nur die Interessen der Finanzjongleure in der City und ihrer steinreichen Klienten vertritt. Die Engländer hoffen zwar sehr, dass das Referendum nicht mit einem Yes! Zur Unabhängigkeit ausgeht, setzen aber darauf, dass die schottische Sozialdebatte auf ganz Britannien abfärbt. Das wäre zumindest ein positiver Effekt des schottischen Separatismus.
Erst einmal wird abgestimmt. Immer noch sind vierzehn Prozent der Schotten unentschlossen. Am 19. September am Vormittag, wenn die letzten Stimmen aus den schottischen Highlands gezählt worden sind, wird Bäcker Lewis unter Umständen einen hitzigen Moment erleben. „Wenn wir das Referendum verlieren, dann wird es so sein, als würde mir mein Kilt abbrennen.“
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