Das jüdische Museum Wien und die Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau haben sich mitten im neuen Kalten Krieg an ein gemeinsames zeitgenössisches Kunst-Projekt gewagt.
Ein Bild der Idylle, ein Blick aus dem Fenster. Doch bei genauerem Hinsehen sieht man am Zaun einen Stacheldraht. Die Stickerei entstand im Gulag, die Künstlerin ist unbekannt, wahrscheinlich dort umgekommen. So wie viele andere Artefakte landete die Arbeit in der Sammlung von Memorial in Moskau. Die russisch-österreichische Künstlerin Ekaterina Shapiro-Obermayr hat sie für ihre zeitgenössische Interpretation in der Ausstellung „Tales of two cities“ ausgewählt.
Memorial - die russische Menschenrechtsorganisation kümmert sich um die Aufarbeitung der Gulag-Geschichte - und das jüdische Museum Wien haben ihre Sammlungen für jeweils drei russische und österreichische Künstlerinnen geöffnet. Neben Shapiro-Obermayr beteiligten sich Hans Weigand und Zenita Komad aus Österreich, Haim Sokol, Olga Jitlina und Alisa Yoffe aus Russland. Im Jänner 2015 kommt „Tales of two cities“ ins Jüdische Museum Wien.
Den Veranstaltern war wichtig zu vermeiden, den Gulag in die Nähe von Auschwitz zu rücken: „Man kann die Vernichtung der Juden nicht mit Stalins Terror vergleichen“, meint Museumsdirektorin Danielle Spera. Ihr ging es darum, „zwei Institutionen zusammenzubringen, die sich um die Erinnerung jener kümmern, die ausgelöscht wurden.“
Im heutigen Russland steht Memorial damit alleine da. Unter Putin wird eher an Stalins Sieg über den Faschismus als daran erinnert, dass er Millionen Menschen in den Gulag geschickt hat. Seit 2012 müssen sich NGOs, die Spenden aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ registrieren lassen. Die Mitarbeiter von Memorial werden inzwischen als Volksfeinde behandelt. „Es ist schwer, ganz schwer“, seufzt Memorial-Mitarbeiterin Irina Sherbakova: „Wir wissen nie, ob wir nächste Woche noch arbeiten können.“
Unter den neuen Spionparagraphen fällt damit theoretisch auch die Ausstellung „Tales of two Cities“, die unter anderem von der Raiffeisenbank gesponsert wird und im privaten Museum of Modern Art von Wassili Tseriteli in Moskau gezeigt wird. Politisch mutig sind auch die gezeigten Werke der russischen Künstler, die Österreichs Kulturattaché Simon Mraz ausgesucht hat. Die aus dem künstlerischen Umfeld der Gruppe „Pussy Riot“ stammende Alissa Yoffe wurde von einem Thoravorhang aus der Wiener Sammlung zu einem Punk-Konzert-Gemälde inspiriert; der russisch-israelische Haim Sokol hat sich mit der Bleikugel, die den jüdischen Revolutionär Karl-Heinrich Spitzer 1848 tötete, auseinandergesetzt. Sokol hat statt Kugeln bleierne Buchstaben gegossen.
Hans Weigand suchte bei Memorial einen Kissenbezug aus, auf den ein Häftling im Gulag ein Abbild des Revolutionskünstlers Wladimir Majakovski gestickt hat. Für den aufmüpfigen sowjetischen Poeten hat Weigand mal geschwärmt. Der Wahl-Burgenländer ist gerne nach Moskau gekommen: „Die Leute von Memorial werden diffamiert - die muss man unterstützen.“ Das war nicht nur politisch interessant: „Millionen Menschen sind im Gulag umgekommen und was bleibt davon übrig: ein paar Stahlschränke voller Artefakte.“
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