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Nabelschnur im Keller

Mein Klassenvorstand "Im Keller"
Kino-Grusel in Wien: Ulrich Seidl inszeniert meine ehemalige Lehrerin.

Die Frau geht im Bademantel in den Keller und eigentlich will man ab diesem Moment lieber gehen. Was kann einen im Keller schon erwarten? Es ist geradezu erleichternd, dass die rundliche, teigige Figur nur eine einsame Frau ist, die mit lebensechten Neugeborenenpuppen spricht, als wären sie ihre Kinder.

Ulrich Seidls Film „Im Keller“ ist noch viel beklemmender, als es den Kritiken zu entnehmen war. Liegt es daran, dass das Leben mancher Leute noch viel schlimmer ist, als man denkt? Die wahnwitzige Mischung aus tödlicher Langeweile, exhibitionistischer Perversion und Nazi-Sympathien der handelnden Personen ist abstoßend. Vor allem, weil Seidl diese Menschen in ihren widerlichen, geschmacklosen Kellern, in denen sich Folterkammern, Schießstände oder Nazi-Memorabilia verbergen, in solcher Kälte und Distanz inszeniert. Da hängt eine Frau ihren Mann an den Hoden auf, eine andere Frau lässt sich von einem Mann in Lederhose auspeitschen, von den inzwischen berüchtigten komplett betrunkenen ÖVP-Gemeinderäten und ihrer absolut unsäglichen Konversation vor einem Hitler-Porträt mal ganz abgesehen.

Da geht der schnauzbärtige Nazi-Sympathisant auf sein Hitler-Porträt („Das war das schönste Hochzeitsgeschenk, das ich bekommen habe“) zu und spielt auf seinem Blechinstrument „Heute gehört uns Deutschland…“ und der neben mir sitzende Ari Rath, der 1938 von den Nazis aus Wien vertrieben wurde, spricht den Text mit: „…und morgen die ganze Welt.“ Wer nicht nur im Keller Nazilieder spielt, sondern auch so doof ist, dies vor der Kamera publik zu machen, soll ruhig öffentlich geächtet werden - und im Falle seiner ÖVP-Gemeinderatsfreunde den Job verlieren.

Das Schrecklichste an dem Film - und darin liegt Seidls Qualität - ist die schreiende Einsamkeit der handelnden Personen. Der Nazi-Bläser kommuniziert mit seiner Frau nur über Klopfzeichen im Stock darüber. Auch bei der Frau mit den Babypuppen ist es schrecklich auffällig, wie allein sie ist. Sie steht vor einer Weltkarte und teilt der Puppe in ihrem Arm mit, dass der Papa eben nie da sei, weil er immer reise. Das ist schon fast berührend.

Außer, dass man bei Ulrich Seidl nicht mehr sicher sein kann, was Fiktion und was Realität ist. Manche halten ihn für einen Scharlatan, weil er einige seiner Darsteller per Casting-Team ausgewählt hat und allen Mitwirkenden einen Spesensatz von 35 Euro zahlt. So hat die Babyflüsterin Alfreda Klebinger angeblich nur gespielt. Der Mann mit den Nazi-Memorabilia dagegen staube auch im echten Leben gern sein Hitler-Bild ab. Kollege Stefan Grissemann hat im profil zur Verteidigung Seidls ausgeführt: „Seidl entstellt zur Kenntlichkeit.“ (http://www.profil.at/articles/1439/983/378050/ulrich-seidl-stefan-grissemann-hakenkreuzgang)

Man mag das nicht mit ansehen wollen. Vor allem, weil Seidl wie ein Süchtiger mit jedem seiner Filme die Dosis österreichischen Alltagsgrauens erhöht. Ari Rath und ich verließen das Kino angewidert. Doch eines schafft der Regisseur tatsächlich: Er entstellt zur Kenntlichkeit. Das hat er sogar bei der Frau mit ihrer Babypuppe getan, die am Ende des Filmes ihr Plastikkind in den Karton bettet, diesen schließt und wieder auf dem Regal verstaut.

Denn diese Frau, Alfreda Klebinger, war vor ihrer „Schauspielkarriere“ mein Klassenvorstand im Gymnasium. Sie nervte uns jahrelang mit ihrem überbordenden Bedürfnis, eine Mutterrolle in unserem adoleszenten Leben spielen zu wollen.

Die Frau in Seidls Film sah ich zuletzt in persona beim 25jährigen Maturatreffen. Sie kam in einen Heurigen in Perchtoldsdorf mit einem Korb voller Zwirn-Knäuel. Jedem von uns reichte sie eines mit den Worten: „Das ist deine Nabelschnur.“

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© 2018 Tessa Szyszkowitz