Sicherheits-Experte Andrei Soldatov über die Psychologie der Russen, die Motivation Wladimir Putins und die Schwächen seines Geheimdienstes.
Andrei Soldatov, 39, russischer Aufdeckungsjournalist und Co-Autor des 2010 erschienenen internationalen Bestsellers „The New Nobility: the Restoration of Russia’s Security State and the enduring Legacy of the KGB”. Edward Snowdon nennt Soldatov „den prominentesten Kritiker des russischen Überwachungsstaates”.
profil: Präsident Putin hat in den letzten Monaten den Griff auf das Internet verstärkt. Lange hieß es, Putin hätte die neuen Medien nicht verstanden. Sind diese Zeiten vorbei?
Soldatov: Allerdings. Der Kreml hat gelernt, das Internet zur Überwachung und Manipulierung zu nutzen. Im Prinzip kann der Kreml jede Webseite abdrehen, die ihm nicht passt. Doch bisher ist die Technologie nicht sehr entwickelt, man kann letztlich noch alle Webseiten finden. Deshalb glaube ich nicht, dass es den Verantwortlichen darum geht, das Internet vollkommen abzudrehen. Wichtig ist ihnen etwas anderes. Sie erfinden ständig neue Gesetze – bis die Bürger nicht mehr verstehen, was ihnen eigentlich noch erlaubt ist. Der Kreml setzt auf Selbstzensur: Es ist vollkommen unklar, wann oppositionelle Tätigkeit anfängt. Deshalb bleiben viele schon weit davor stehen.
profil: Trotzdem bleibt es aus westlicher Sicht ein Rätsel, warum die russische Bevölkerung Putin so stark unterstützt und es fast keine oppositionellen Proteste mehr gibt.
Soldatov: Hier herrscht Angst – das ist das Erbe aus der Sowjetzeit. Es ist die kollektive Erinnerung daran, was in der Revolution 1917 passiert ist. Diese Angst hat sich der Kreml im Falle der Ukraine zunutze gemacht. Die gesamte Propagandamaschine hat eine Botschaft aus dem Umsturz in Kiew gezogen: Wollt ihr dieses Chaos auch bei uns? Wollt ihr, dass in den Straßen wie auf dem Maidan geschossen wird und Menschen sterben? Das neue russische Bürgertum hat sich das überlegt und entschieden: Nein, danke.
profil: War das Vorgehen in der Ukraine von langer Hand geplant?
Soldatov: Russlands Regierende haben schon seit Jahren keine vernünftige Außenpolitik betrieben. Sie haben keine Strategie. Sie reagieren immer nur. Der KGB war im Gegensatz zum CIA nie dafür zuständig, politische Analysen an den Präsidenten zu liefern. Der Aufstand auf dem Maidan hat den FSB komplett überrascht. Putin war wütend und hat sich gedacht: Wenn es einen Aufstand gegen den pro-russischen Präsidenten gibt, dann nehmen wir den Ukrainern zur Strafe die Krim weg.
profil: Hat Putin das allein entschieden oder in Abstimmung mit dem FSB? Wer sind die politischen Drahtzieher?
Soldatov: Die hohen FSB-Funktionäre sind gut bezahlt, sie sind zufrieden und daher sehr passiv. Vor zehn Jahren war das noch anders, da waren sie hungrig und wollten dem Land als neue Führungsschicht ihren Stempel aufdrücken. Im Kreml gibt es allerdings ein paar abenteuerlustigere Funktionäre, die wollen mehr. Vyacheslav Volodin, Vizechef der Kreml-Administration, steckt hinter dem Krim-Abenteuer. Er hat 2011 den Job im Kreml vom früheren Chefideologen Vladislav Surkov geerbt, der hinter den Kulissen immer noch viele Fäden zieht. Und auch Alexander Bastrykin, der Chef des „Investigativen Exekutivkommittees”. Vor dem fürchten sich heute alle viel mehr als vor dem FSB.