Marina Litvinenko, die streitbare Witwe des 2006 ermordeten ehemaligen FSB-Offiziers Alexander, über den Untersuchungsausschuss zur Causa in London und über die mutmaßlichen Mörder ihres Mannes.
Eine graue Wollmütze tief in die Stirn gezogen eilt Marina Litvinenko ins Hinterzimmer der Brasserie Balthazar in Covent Garden. Die schlanke 52jährige Frau setzt sich in eine ruhige Ecke, richtet Haare und Norwegerstrickjacke zurecht und blickt erleichtert um sich: “Gut, es hat mich keiner erkannt.”
Der Medienrummel ist für die dezente Russin schwer zu ertragen. Vor dem Royal Court House, wo seit vergangener Woche die Ermordung ihres Gatten aufgeklärt werden soll, drängten sich an den ersten beiden Tagen des Untersuchungsausschusses dutzende Fotografen. Doch die Witwe von Alexander Litvinenko hat auch eine streitbare Seite: Sie ist hochzufrieden, dass es nach jahrelangem Kampf endlich zu einer juristischen Aufarbeitung des Falls kommt.
Für Marina Litvinenko war der Tod ihres Mannes ein Schicksalsschlag, aber auch für die Öffentlichkeit war es ein Schock: Vor den Augen der Medien siechte der einstige Geheimdienst-Offizier im Spätherbst 2006 in einem Londoner Krankenhausbett vor sich hin, ehe er am 23. November desselben Jahres verstarb.
Eine polizeiliche Untersuchung hatte in den Monaten danach eindeutig ergeben: Litvinenko war mit dem radioaktiven Gift Polonium 210 worden. Die britischen Behörden wollten die mutmaßlichen Mörder Andrei Lugovoi und Dmitri Kovtun, ehemalige Kollegen vom FSB, anklagen und stellten einen Auslieferungsantrag an Russland. Kovtun tauchte ab. Lugovoi wurde von Putins Regierungspartei “Geeintes Russland” als Abgeordneter ins Parlament gewählt. Die Auslieferung wurde verweigert.
Marina Litvinenko bemühte sich bis 2014 praktisch im Alleingang um eine juristische Aufarbeitung des Mordes – lange Zeit vergeblich (siehe profil 45/2011). Die bilateralen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und Russland schienen der Regierung in London wichtiger.
Doch mit dem Ukraine-Russland-Konflikt änderte sich die geopolitische Lage. Fünf Tage nach dem Abschuss einer malaysischen Maschine über der Ostukraine am 17. Juli 2014, für den prorussische Rebellen verantwortlich gemacht wurden, entschied die britische Innenministerin Theresa May, einen öffentlichen Untersuchungsausschuss zum Fall Litvinenko einzurichten. Dieser nahm am 27. Jänner die Arbeit auf, die Ergebnisse sollen bis Ende des Jahres vorliegen.
Witwe Marina und der 21jährige Sohn Anatoli, der inzwischen Politik und Russisch am University College London studiert, saßen blass und sichtlich angespannt im Saal und hörten zu. Marina wird am Montag kommender Woche vor dem Ausschuss ein Statement abgeben.
Der des Mordes verdächtigte Lugovoi ließ bereits aus Moskau ausrichten, der Verdacht gegen ihn sei „Blödsinn“. Doch schon am ersten Tag wurde im Gerichtssaal 73 klar, wen die britische Justiz für schuldig hält an diesem „Mini-Atomangriff in den Straßen Londons“, wie Berichterstatter Robin Tam den Mord nannte. Litvinenko hatte 1998 den russischen Geheimdienst FSB öffentlich der Korruption bezichtigt. Bei einer Pressekonferenz in Moskau hatte er bekannt gegeben, er sei von seinen Vorgesetzten aufgefordert worden, den damals einflussreichen russischen Oligarchen Boris Berezovsky zu ermorden. Litvinenko wurde daraufhin zunächst in Haft genommen, 2000 flüchtete er mit seiner Frau Marina und seinem Sohn Anatoli nach London.
„Kann es sein“, sinnierte Kronanwalt Tam zum Auftakt der Untersuchung am vorigen Dienstag, „dass diese Pressekonferenz dazu führte, dass er acht Jahre später in London vergiftet wurde?“ Litvinenko-Anwalt Ben Emmerson schob der Frage dann angriffslustig eine Antwort nach: „Die Spur des Polonium 210 führt direkt zur Tür von Wladimir Putin.“
profil: Guten Morgen, möchten Sie einen Kaffee?
Marina: Danke, ich trinke lieber Tee. Gestern im Untersuchungsausschuss wurde übrigens sehr viel über die Teekanne geredet, in die Andrei Lugovoi das Polonium geschüttet hat, um Sasha (Kosename für Alexander Litvinenko, Anm.) zu vergiften. Die Teekanne in der Bar des Millenium Hotels sieht dieser hier sehr ähnlich. Gut, dass ich heute nicht mehr so emotional bin. Früher habe ich gedacht, ich könnte nie wieder Tee trinken. Aber das ist natürlich Blödsinn. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir jedes kleinste Detail der Ermordung meines Mannes auflisten. Damit keiner mehr sagen kann, dass es nicht so war.
profil: Meinen Sie? Es gibt immer noch Holocaust-Leugner, obwohl die Existenz der Gaskammern eindeutig wissenschaftlich belegt ist.
Litvinenko: Das stimmt, aber es wird schon schwieriger für Lugovoi, seine Lügen zu verbreiten: Mein Mann soll sein Leben selbst beendet haben? Nein, hat er nicht.
profil: Ihr Anwalt sagt: „Die Spur führt zu Vladimir Putin.“ Wie soll das bewiesen werden?
Litvinenko: Wir werden zeigen, was Putin ist: ein Krimineller. Als er im Jahr 2000 Präsident wurde, waren doch alle bass erstaunt: Ein kleiner KGB-Offizier, der in einer minderen Position in Ostdeutschland gedient hat, wird plötzlich der Führer eines so großen Staates wie Russland? Doch alle nahmen ihn ernst. Die westlichen Staatschefs tragen auch Verantwortung dafür, was heute passiert. Sie haben ihn als einen der ihren behandelt. Doch Putin war nie ein glaubwürdiger Politiker. Zuerst verwandelte er sich in den Augen der Welt vom Kriminellen zum Staatschef. Jetzt geht die Transformation umgekehrt: Statt als legitimer Präsident wird er wieder als das gesehen, was er immer war: ein Verbrecher.
profil: Sie sind hart zu den westlichen Politikern. Putin wurde 2000 in freien Wahlen gewählt, da konnte man wohl nicht anders, als ihn anzuerkennen.
Litvinenko: Es gab genug Anzeichen für seine wahren Intentionen. 2003 ließ er den Geschäftsmann Michail Chodorkowski verhaften und im Straflager verschwinden. Dann sperrte er die demokratischen Institutionen zu. Und niemand tat ernsthaft etwas dagegen. Inzwischen gibt es eine Generation junger Russen, die keinen anderen Führer als ihn kennen gelernt hat. Die jahrelange Propaganda hat ihr Hirn vernebelt. Die Stimmung in Russland ist heute extrem nationalistisch. Gerade gestern hat in der Duma (russisches Parlament, Anm.) in Moskau ein Abgeordneter gesagt: „Wir sollten die sogenannte Vereinigung Deutschlands als das bezeichnen, was sie eigentlich war: eine Annexion.“ Es wird schwer sein, diese nationalistischen Gefühle wieder einzudämmen.
profil: Als Sie Ihren Mann in den Neunziger Jahren kennenlernten, arbeitete er für die Nachfolgeorganisation des KGB, den russischen Geheimdienst FSB. Wussten Sie, dass er ein Spion war?
Litvinenko: Sasha war kein Spion. Er arbeitete im Sicherheitsdienst an der Aufklärung krimineller Fälle. So haben wir uns ja kennengelernt. Freunde von mir hatten eine Firma und waren in Schwierigkeiten, weil ein Geschäftspartner nicht gezahlt hatte. 1993 waren wir alle in Russland in einer heiklen Lage, wir lernten die Vorzüge, aber auch die Nachteile des Kapitalismus kennen. Sasha wurde mit dem Fall meines Freundes betraut und löste ihn zu allgemeiner Zufriedenheit. Er sprach darüber offen.
profil: Ihr Mann war in diesen Jahren aber auch zu einem Sondereinsatz im Kaukasus. Viele seiner Fälle spielten im Graubereich geheimdienstlicher Tätigkeit. Hat Sie das nicht beunruhigt?
Litvinenko: Ich wusste, dass er keinen normalen Job hatte, bei dem er von neun bis fünf am Schreibtisch saß. Aber Sasha hat seine Arbeit sehr ernst genommen, für ihn ging es darum, Gerechtigkeit zu schaffen. Als er von dem Mordkomplott gegen Berezovsky erfuhr, hat er erst intern und dann öffentlich versucht, die Leute wachzurütteln. Das Ergebnis ist bekannt.
profil: Nach Ihrer Flucht hat Boris Berezovsky Ihre Familie finanziell unterstützt. Voriges Jahr wurde er tot im Haus seiner Exfrau außerhalb Londons gefunden. Glauben Sie daran, dass er sich voriges Jahr umgebracht hat?
Litvinenko: Berezovsky war sicher kein einfacher Mensch, aber er hat mir sehr geholfen. Zuerst, als wir hier ankamen. Später, nach der Ermordung von Sasha, hat Berezovsky die Schule für Anatoli gezahlt. Ich habe vor seinem Tod nur noch mit ihm telefoniert und hatte nicht den Eindruck, dass er knapp davor war, sich umzubringen. Die britische Justiz hat am Ende ein „offenes Urteil“ gefällt. Man kann sich nicht sicher sein.
profil: Wie geht es Ihrem Sohn Anatoli bei alledem? Er hört die grausamen Umstände des Mordes seines Vaters. Gleichzeitig studiert er Russisch und beschäftigt sich intensiv mit Politik.
Litvinenko: Anatoli ist sehr angespannt. Ich habe mir im Gerichtssaal Sorgen gemacht, er sah so bleich aus. Als wir durch die Massen von Fotografen gehen mussten, zitterte er. Die mediale Aufmerksamkeit ist ein bisschen viel für ihn. Aber er wollte mitkommen. Die Aufarbeitung dieses Mordes ist für ihn ebenso wichtig wie für mich. Und Anatoli verfügt über ein sehr scharfes, analytisches Denken. Er könnte einmal einer der wichtigsten Russland-Experten in England werden.