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Was Josef K. treibt

The_Trial_Press

Ist es sexuelle Not oder politische Repression? Im Londoner Theater Young Vic stolpert Rory Kinnear in Kafkas “Der Prozess” seinem Ende entgegen. 

Kafka auf Englisch? “Der Prozess” in London? Bevor das Fragezeichen zu Ende gedacht ist, fällt Rory Kinnear als Josef K. bereits über ein rollendes Laufband in die erste Szene. Keine Sekunde lässt der 37jährige Schauspieler Kafkas Helden in den nächsten zwei Stunden ruhen. Seine Augen, Arme, Beine, sie sind ständig in Bewegung, getrieben von einer Bürokratie, in deren Fänge er geraten ist und die nur eines im Sinn hat: ihn fertigzumachen.

Mit ungeheurer Präzision verfährt die Londoner Produktion im Young Vic (adaptiert von Nick Gill und in der Regie von Richard Jones) mit K.s Untergang. Keine Geste zu viel, kein Wort extra, keine Pause zu lang. Rory Kinnear ist Josef K. in all seiner Spießigkeit, unschuldigem Unglauben und seiner Jämmerlichkeit. Rory Kinnear – Spitzname: “Rory Karriere” – ist der im Ausland unbekannteste aller britischen Schauspielerstars. Dabei aber vielleicht der beste. Vom Michael in “Festen” unter Rufus Norris im Almeida-Theater 2004 bis zu seinem bestürzend hinterhältigen Iago im “Othello” im National Theater 2013 meistert Kinnear jeden Charakter unglamurös, wie nebenbei. Ins Kino kommt er jetzt demnächst wieder im nächsten James Bond als Bill Tanner, dem loyalen Chief of Staff von M.

Im Young Vic, der Experimentierbühne des Old Vic, verstärkt das Bühnenbild noch das Voyeuristische der Lage. Die Zuschauer sind in aufsteigenden Sitzreihen rund um die Bühne drapiert. “Schaut und starrt nur!”, ruft K. immer wieder anklagend. Über dem Laufband, das unerbittlich neue Szenen auf die Bühne rollt, hängt wie ein negativer Baldachin ein riesiges oranges Schlüsselloch. Überhaupt sind die Szenen in ungesundem Orange und Grün gehalten, das Neonlicht ist stets zu hell, auch im Zuschauerraum gibt es zwei Stunden lang kein Entkommen.

In der Londoner Inszenierung wird nicht klar, ob Josef K. an seinen sexuellen Schuldgefühlen verrückt wird oder ob es tatsächlich einen repressiven Staatsapparat gibt, der ihn vor sich her und in den Tod treibt. Diese Lesart irritiert. Es stimmt, Kafkas Verhältnis zu Frauen war kompliziert, er war zu einer längeren und engen Beziehung nicht fähig. Dennoch liegt die beklemmende Intensität von Kafkas unvollendetem Roman nicht im sexuellen Unglück.

Es ist viel mehr der bedrückende Umstand, einer höheren Macht ausgeliefert zu sein, deren Handlungsziel sich nie erschließt. “Der Prozess” entstand genau vor hundert Jahren. Der erste Weltkrieg war gerade ausgebrochen, das Individuum trat hinter die Staatsräson, wenn es denn eine gab, zurück. Kafka, ein deutschsprachiger Jude in der tschechischen Republik unter Habsburg-Herrschaft aufgewachsen, spürte vielleicht das Jahrhundert der totalitären Regimes schon bevor es in seiner Heimat so richtig begonnen hatte. Erst das Dritte Reich, dann die Tschechoslowakei als Satellitenstaat der Sowjetunion – die undurchdringliche Staatsbürokratie, der Repressionsapparat undemokratischer Systeme, das ist Josef K.s schreckliche Welt.

Dieses dumpfe Grauen kennt man am europäischen Kontinent wohl besser als in London. Vielleicht hat sich die britische Regie deshalb für die verquälten sexuellen Nöte K.s als Schlüssel für die Produktion entschieden. Zu einer Zeit, wo in Russland anarchistische KünstlerInnen wie Pussy Riot oder Pjotr Pavlensky – der unlängst seine Hoden auf dem Roten Platz annagelte – mit Gefängnis bedroht werden, bleibt Kafkas “Prozess” aber vor allem als politische Studie der Unterdrückung bedrückend aktuell.

Läuft noch bis 22. August in:

http://www.youngvic.org/whats-on/the-trial

http://www.ft.com/cms/s/0/604767ca-1e58-11e5-ab0f-6bb9974f25d0.html#axzz3itP2tHpF

http://www.theguardian.com/stage/2015/jun/28/the-trial-review-a-punishing-kafkaesque-experience

http://www.themoscowtimes.com/news/article/how-russias-notorious-artist-convinced-his-interrogator-to-switch-sides/526247.html

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© 2018 Tessa Szyszkowitz