Foto: Alex Schlacher
Ein 66-jähriger, linker Friedensaktivist könnte kommenden Samstag Vorsitzender der britischen Labour-Partei werden. Dem Establishment graut.
Jeremy Corbyn betritt die Bühne des Civic Theatre in Chelmsford auf leisen Sohlen. Der Kandidat für den Vorsitz der britischen Labour Party trägt hellbraune Gesundheitsschuhe; dazu graue Hosen und ein sehr weites weißes Hemd mit gelben, blauen und roten Streifen. Der Hemdkragen ist offen und entblößt ein altmodisches Unterhemd. Sein blaues Blouson hängt der Politiker auf einen Stuhl, die zerbeulte braune Ledertasche Marke “Firetrap” legt er daneben. Dann setzt er sich hin und lächelt freundlich aus seinem grauen Bart heraus in den Saal.
So beginnt der Abend mit dem 66jährigen Shooting Star der britischen Politszene. Ursprünglich war er als Außenseiterkandidat zu dieser Wahl angetreten. Bei den Parlamentswahlen am 7. Mai hatte die Labour-Party eine beschämende Niederlage eingefahren. Die konservativen Tories unter David Cameron konnten eine Alleinregierung bilden, Labour-Chef Ed Miliband trat zurück. Der Kampf um seine Nachfolge begann nur zögerlich.
Dann aber schoss Corbyn über den Sommer in den Umfragen nach oben. Ausgerechnet er, der Linksaußen der traditionellen Arbeiterpartei. Dabei hatten die Zentristen geplant, nach dem Rücktritt des Gewerkschaftsfreundes Ed Miliband die Partei wieder zu übernehmen. Wie es derzeit aussieht, wird Jeremy Corbyn nach Ende der Partei-internen Urwahl am 12. September, zum Labour-Chef ausgerufen.
Als der hagere Mann in Chelmsford die Bühne betritt, reißt es die Dicken und die Dünnen, die Alten und die Jungen aus ihren Sitzen. Standing Ovations gibt es viele an diesem Abend. Die Kreisstadt von Essex in Ostengland kam durch Unternehmen wie den Telekommunikationskonzern Marconi hoch. Heute sind die meisten Fabriken längst geschlossen. Die meisten Chelmsforder fahren im Zug nach London zur Arbeit. “Wenn man in Deutschland sagt, der Staat soll mithelfen, in die lokalen Manufakturen zu investieren, dann finden das alle normal. Warum sollte das bei uns anders sein?”, ruft der neue Volkstribun in den Saal. Da stehen die Leute gleich wieder auf und jubeln.
Corbyn möchte auch die von den Konservativen privatisierten Staatsbetriebe wieder verstaatlichen. Die Post, die Bahn, eigentlich alles. Das scheint allerdings ein wenig unrealistisch. Der Ruf nach einem Rückkauf der Bahn ist in England allerdings nicht so absurd wie jetzt alle tun. Tony Blair etwa vertrat noch 1995 die gleiche Position. Erst 1997, als er das Aushängeschild von New Labour wurde, gab er diese Forderung auf.
Mit seinen Chancen auf den Labour-Vorsitz moderiert auch Corbyn bereits seine Positionen, seine frühere Distanz zur EU hat sich verringert: “Wir müssen in der EU bleiben, um für ein besseres Europa zu kämpfen.” Zuvor hatte Corbyn stets den aufmüpfigen Linksaußen gespielt. Bei 533 von 3498 Abstimmungen votierte er gegen die eigene Parteilinie. Darunter auch gegen den Vertrag von Lissabon. Er stimmte andererseits aber auch dafür, dass sich Großbritannien in Polizei- und Justiz-Fragen mit der EU abstimmt.
Was junge Fans zum altmodischen Friedensaktivisten zieht, ist mehr als der Ruf nach sozialer Sicherheit. In Chelmsford tritt der hoffnungsfrohe Fantast an jenem Mittwoch auf, an dem Premierminister David Cameron verkündet hat, dass Großbritannien keine Asylwerber aus Syrien ins Land lassen wird. “Deutschland nimmt eine riesige Zahl an Flüchtlingen auf”, ruft Corbyn. “Wir müssen unseren Teil dazu beitragen, diese humanitäre Krise zu bewältigen. Diese Menschen sind verzweifelt, die dürfen wir nicht für ihre Lage verantwortlich machen.”
Emma Hampton findet es gut, dass jemand die soziale Wärme einfordert, die im Vereinigten Königreich zwischen xenophoben UKIP-Agitatoren und glatten Politikern der etablierten Volksparteien verloren geht. “Jeremy sagt die Wahrheit”, meint die 21jährige Chemie-Studentin. Sie trägt ein “Jez we can”-T-Shirt. Sind Kandidatinnen wie Yvette Cooper in dieser Hinsicht anders? Die 46-jährige ehemalige Arbeitsministerin tritt ebenfalls als Labour-Chefin an und hat dazu aufgerufen, syrische Flüchtlinge aufzunehmen. “So gern ich eine Frau als Vorsitzende hätte”, meint Emma, “ich traue Jeremy eben mehr. Er ist so authentisch.”
Corbyn trägt ja auch immer noch die gleichen Klamotten wie 1983, als er zum ersten Mal für den Londoner Bezirk Islington North ins House of Commons gewählt wurde. Auch seine Meinungen hat er nicht gewechselt, sie werden jetzt nur für die Anforderungen des Labour-Wettkampfes neu angepasst.
Damals wie heute trat er gegen Aufrüstung, Nuklearwaffen und Kriege ein. Schon seine Eltern waren Pazifisten und Antifaschisten. Die beiden lernten einander im Spanischen Bürgerkrieg kennen. Aus diesem friedensbewegten Denken heraus misstraut Corbyn bis heute den Amerikanern und der Nato, denen er wie in den Achtzigerjahren imperialistische Motive unterstellt. Das wirkt etwas altbacken, hat doch nicht Amerika sondern Russland 2014 seine Soldaten über die Grenze in die Ukraine geschickt. Austreten aber will er aus der Nato nicht mehr. “Ich würde die Rolle der Nato einschränken wollen, das schon.” Dass er die islamistische Hamas-Bewegung als „Freunde“ bezeichnet hat, wird ihm ebenfalls angekreidet. Wobei Corbyn sagt, er habe mit all dem bloß sagen wollen, man müsse mit allen eine Gesprächsbasis bewahren. Auch mit Putin und der Hamas.
Sein Pazifismus hat auch eine moderne Seite: Bei der Abstimmung im Unterhaus über den Krieg im Irak im Jahr 2003, den Tony Blair unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen begann, stimmte Corbyn mit „Nein“. Und er fühlt sich heute bestätigt: „Mit Millionen Flüchtlingen auf dem Weg ins sichere Europa sehen wir ja, wohin uns dieser Krieg geführt hat.“
Jeremy wuchs in Westengland auf, die Mutter war Lehrerin. Seit Jahrzehnten lebt er in Nordlondon und so spricht er auch. Der neue Held der Arbeiterbewegung ist kein Arbeiterkind. Macht nichts, seine Gegenkandidaten haben in Oxford und Cambridge studiert. Corbyn dagegen brach ein polytechnisches Studium schnell ab, um sich ganz dem politischen Kampf zu widmen.
Man spürt, wie viel Spaß ihm seine neue Popularität macht. „Die Welt ist reicher als vor hundert Jahren. Doch sie ist ungerechter für viele“, ruft er am Schluss der Veranstaltung: “Das will ich ändern. Und das Verblüffende an diesem Sommer ist zu merken, wie viele von euch das auch wollen.“
Da steht der ganze Saal wieder auf und klatscht wie wild. Der Hoffnungsträger klettert von der Bühne und nimmt ein Bad in der Menge. Bei all dem hat die Corbynmania wenig Hysterisches. Er lässt Selfies mit sich machen und hört den Jungen und Alten zu. Der Politikstudent Brandon Tiwari fragt ihn, wie er die Labour Party einen kann, sollte er gewinnen. Immerhin überschlagen sich Altvordere wie Expremier Gordon Brown mit Warnungen vor dem unberechenbaren Linksaußen.
Der laut Eigendefinition „demokratische Sozialist“ lächelt gelassen: „In unserer Bewegung haben doch alle Platz!“ Dann zieht er sein blaues Blouson an und geht. Wer die Welt verbessern will, kümmert sich nicht um Kabale und Krawatten.