Ermordete Jo Cox am Titelblatt des "Guardian"
Die besten und die schlimmsten britischen Traditionen brechen in den letzten Paniktagen vor dem EU-Referendum hervor. Tessa Szyszkowitz sieht sich bange um.
Ihr letzter Tweet lautete: "Mein Mann und die Kinder sind in der Schlacht auf der Themse - weil wir für #StrongerIn #Remain" sind." #StärkerDrinnen und #Bleiben. Jo Cox und ihr Mann waren dafür, dass Britannien in der EU bleibt. Auf der Themse hatten sich am Mittwoch die Befürworter eines Verbleibs und jene für einen Austritt eine heftige verbales Auseinandersetzung in Flotillas geliefert. Am nächsten Tag wurde Jo Cox, Abgeordnete für Labour, 41 Jahre alt, Mutter zweier Kinder, bei einer Veranstaltung in ihrem Wahlkreis erschossen. Sie war ein Shooting star in der Labour-Partei, eine Frau, die als erste in ihrer Familie studiert hatte - und zwar in Cambridge - und in der Labour-Partei für eine sozialere Welt kämpfte.
Großbritannien ist im Schock. Eine heftige Debatte gehört in Großbritannien zur politischen Kultur. Der Mord an Jo Cox, einer besonders EU-freundlichen Labour-Abgeordneten, bildete vorigen Donnerstag aber den traurigen Höhepunkt einer Kampagne, die mit brutaler Wortgewalt geführt worden war und jetzt in echte Gewalt umgeschlagen ist. Sofort wurden alle Wahlkampagnen ausgesetzt. Entsetzt und verletzt traf sich die Führungsliga der Labour-Partei in Westminster zu einer Gedenkfeier. Auch die erbitterten politischen Feinde sandten über Twitter ihre Beileidsbezeugungen aus. Die Motive des Mörders waren noch unklar. Doch der Zusammenhang zwischen verbaler Hetze und tatsächlicher Gewalt steht im Raum.
Das Vereinigte Königreich spielte innerhalb der Europäischen Union von Anfang an eine Sonderrolle. Doch noch nie wurde der Abstand zwischen dem Vereinigten Königreich und dem europäischen Kontinent so groß wie in den vergangenen Wochen. Nach sechs Jahren ist der profil-Korrespondentin in Großbritannien vieles ans Herz gewachsen – Kilts und Kunst, Streitkultur und Sausage Rolls – aber die hartnäckige Missachtung der Bedeutung der europäischen Einigung ist für geschichtsbewusste Kontinentaleuropäerinnen immer noch schwer zu ertragen. Die Briten bekamen bereits ein Opt-out aus der Schengen-Zone, der Euro-Gruppe, und sie müssen bei der politischen Union nicht mitmachen. Jetzt aber bricht am Sitz der Regierung in 10 Downing Street Panik aus. Trotz Extrawürsten sind die zarten Bande mit Europa in Gefahr! In Umfragen führen die Brexit-Befürworter knapp. Die Briten sind dabei, aus der EU auszutreten.
Ein fescher Grieche mit britischem Pass lächelt ein bisschen verlegen: “Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich stimme sicher für den Brexit.” Es ist früher Abend, ein Empfang mit Hauskonzert im edlen Londoner Stadtteil Kensington. Der Prosecco schäumt kalt in den Gläsern, der Smalltalk gefriert. Halb Grieche, halb Brite, Doppelstaatsbürger, Europäer, wohlhabend, weltoffen, und so jemand stimmt für den Austritt aus der EU? Den Griechen hilft Brüssel seit Jahrzehnten mit Regionalhilfe, seine griechische Familie kann im Vereinigten Königreich wohnen und arbeiten, er selbst reisen, wohin er will? Wer, wenn nicht er, sollte den Sinn der europäischen Idee begreifen? “Die EU ist doch ein gescheitertes Projekt”, sagt er fast trotzig, “was sollen wir in dem Club noch?”
Er ist nicht der typische EU-Skeptiker. Er zählt ebenso wie die Unterhaus-Abgeordnete Gisela Stuart zur skurrilen Minderheit der Überangepassten in diesem vielfältigen Einwandererland. Stuart etwa ist eine der wenigen Labour-Abgeordneten, die lautstark für den Brexit wirbt. Sie ist Co-Vorsitzende von “Vote Leave”: “Britannien soll ein signifikanter globaler Player werden, ob in Nato, den Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation. Ich bin aber nicht bereit, meine Stimme einer Institution zu geben, die sich als unfähig erwiesen hat, sich an die moderne Welt anzupassen.” Stuart meint damit die EU. Sie sagt all das mit einem schweren deutschen Akzent, denn sie stammt aus Niederbayern: “Es ist ja oft so, dass es dem Ausländer zufällt, dem Eingeborenen zu erklären, was er hat und was er verlieren könnte”, meint sie ein wenig gönnerhaft.
Das haben die Briten gerade noch gebraucht. Sie verfügen ohnehin über einen sehr klaren Instinkt dafür, dass sie eine große Insel bewohnen, der ein eher unbedeutender Kontinent vorgelagert ist. Als ehemaliges Weltreich, das sich bis nach Indien und Pakistan erstreckte, scheint vielen Asien in gewisser Hinsicht nicht weiter enfernt als Europa. Vor allem Briten mit asiatischer Herkunft sehen die Vielfalt ihrer Gesellschaft durch die EU eher bedroht. Deshalb gibt es jetzt in der Referendums-Schlacht auch solch illustre Gruppen wie “Muslims for Britain”, die sich für einen Austritt aus der EU stark machen. “Die EU hat Mangos aus Indien wegen Obstfliegen verboten”, empört sich Rapper Mr. Mango in einem Video: “EU Kolu Bach Keh Rehi! Das heißt: Vorsicht vor der EU!”
Die Nerven liegen blank, die Waffen auf dem Tisch. Premierminister David Cameron berief diese Woche ad hoc eine Pressekonferenz ein und warf dem Brexit-Lager vor, “den Briten komplette Unwahrheiten zu erzählen”. Wenn ein Premierminister seine eigenen Minister als Lügner bezeichne, fragte daraufhin die BBC, sei das nicht ein Zeichen dafür, dass er Angst habe, das Referendum zu verlieren? “Nein,” sagte der Regierungschef und blinzelte in die Londoner Sommersonne, “ich will nur den Lügen die Wahrheit entgegenstellen.”
Cameron aber hat sehr wohl Angst, die größte Schlacht seines politischen Lebens zu verlieren. An sich hatte er das EU-Referendum auf die Tagesordnung gesetzt, um die EU-feindlichen Hinterbänkler in der eigenen Partei zu beruhigen. Diese Strategie ist nach hinten losgegangen. Ein gutes Drittel der konservativen Tory-Abgeordneten und fünf seiner eigenen Kabinettsmitglieder werben jetzt offen für den Brexit. Inzwischen beschimpfen einander Parteifreunde und sogar Ministerkollegen ohne Rücksicht auf Verluste als Lügner.
Iain Duncan Smith trat im März als Arbeitsminister zurück und verwandelte sich in einen der heftigsten EU-Feinde. Er sieht sich als Vertreter der kleinen Leute, die um ihre Jobs fürchten, die ihnen von arbeitshungrigen polnischen Einwanderern streitig gemacht würden. Schatzkanzler George Osborne bezeichnete er als “Pinocchio, dem eine lange Nase wächst”, weil der Finanzminister die Vorteile eines Verbleibs in der EU aufgezählt hatte. Beim Frühstück mit Auslandskorrespondenten von profil gefragt, ob er jemals wieder mit Osborne verkehren werde, meint Duncan Smith: “Die konservative Partei war immer eine ‚broad church’. Unterschiedliche Meinungen haben bei uns immer Platz. Wir sind robuste Debatten gewöhnt.“ Mehr noch. In Britannien wie in Amerika sei die Zeit vor den Wahlen die eigentliche Streitphase. Da würden Positionen ausgehämmert und „Koalitionen für die Zeit danach geschlossen“.
Das ist das Gegenteil der österreichischen Gepflogenheit, stets den Konsens zu üben. Die lebhafte Debatte ist eines der großartigen Charakteristika der britischen Politkultur. Doch in diesen letzten Tagen der Referendums-Kampagne führen die Kontrahenten keine feine Klinge mehr, sie treten sich viel mehr gegenseitig mit Füßen. Boris Johnson etwa – Londons ehemaliger Bürgermeister, der David Cameron gerne als Premierminister beerben möchte – packte gleich die Holzkeule aus und verglich die EU mit Hitler, der Europa auch dominieren habe wollen. Später ruderte er schelmisch ein bisschen zurück: “Es ist eben etwas beunruhigend Undemokratisches an der EU.”
Das ist tatsächlich ein Problem. Die Briten haben nicht ganz zu Unrecht das Gefühl, dass sie die Demokratie erfunden haben und nicht die Brüsseler Eurokraten. Cameron muss kompliziert erklären, dass er die demokratischen Schwächen der EU kennt, sie aber lieber refomieren will als austreten. So ein komplizierter Sachverhalt passt längst nicht so gut in einen Tweet wie ein Hitlervergleich.
“Diesen grotesken Blödsinn müssen wir uns jetzt noch bis zum 23. Juni anhören”, seufzt ein offensichtlich vom Niveau der Brexit-Debatte entnervter Peter Mandelson im Briefing mit Auslandskorrespondenten vergangene Woche in London. Der erfahrene Spin doctor der Labour-Party war einst britischer EU-Kommissar in Brüssel. Er weiß, dass es immer schon verdammt schwer war, für die EU zu werben. Und dass es jetzt wegen der Flüchtlings- und der Euro-Krise praktisch unmöglich geworden ist. Dabei habe das ganze Referendum wenig mit der EU zu tun: “Wir sind Kanonenfutter in einem internen konservativen Bürgerkrieg”, klagt Mandelson. Er weiß, wovon er spricht. Eine der großen britischen Traditionen ist schließlich die politische Intrige im Westminster-Palast, in dem seit hunderten Jahren demokratische Koalitionsbildung praktiziert wird. Nicht umsonst trug der umtriebige Lord Mandelson früher den wenig schmeichelhaften Beinamen “Prinz der Finsternis”.
David Cameron kann jetzt nur noch auf eines hoffen: auf die stets gepriesene britische Eigenschaft, nicht die Beherrschung zu verlieren und dem Altgewohnten den Vorzug zu geben. “Keep calm and carry on” - “Bleib gelassen und mach einfach weiter” stand auf den Plakaten, die 1939 von der Regierung gedruckt wurden, als die britischen Städte von den Bomben des Dritten Reichs bedroht wurden. Seit der Wiederentdeckung des ewig gültigen Slogans im Jahr 2000 ziert er Millionen Teehäferl und gilt zumindest unter Touristen als Ausdruck der britischen Nationalcharakters.
Für den 23. Juni, den Tag der Abstimmung, eignet sich wohl auch eine ebenso legendäre wie ob ihrer fraglichen Authentizität umstrittene Zeitungsschlagzeile aus dem England der 1930er Jahre: “Nebel über dem Ärmelkanal – Kontinent abgeschnitten”.